Im Bann des Nebels, 2, Der ewige Bund (German Edition)
und ziemlich verblüfft.
Asarié wartete im Wohnzimmer vor einem großen Schrank. Als Melanie hereinstürmte, warf die Frau ihr einen kurzen Blick zu und öffnete die Schranktür. Statt der Mäntel und Kleider, die Melanie erwartet hatte, enthielt der Schrank einen sehr großen Spiegel, der den Raum völlig ausfüllte.
Neben der weißblonden, weiß gekleideten Zauberin sah Melanies Spiegelbild dünn, blass und dunkel aus, aber Asarié ließ ihr keine Zeit, sich selbst anzuschauen. Sie strich mit der Hand über den Spiegel, und die polierte Fläche trübte sich ein.
»Was ist das?«, fragte Melanie nervös.
»Das ist der Geisterweg«, sagte Asarié. »Es ist der Weg, über den wir Brückenwächterinnen gehen, da uns die Nebelbrücke versperrt ist. Er ist gefährlich und unbeständig, und ich hätte euch nie davon erzählt, wenn du dich nicht mit den Weißen Schwestern angelegt hättest. Jetzt musst du diesen Weg kennen. Versprich mir, dass du niemals versuchen wirst, ihn alleine zu betreten.«
»Was könnte denn passieren? Eigentlich bin ich doch schon Expertin darin, in irgendwelche Abgründe zu fallen.«
A sarié verzog nicht einmal den Mund zu einem Lächeln. »Der Geisterweg führt durch die Welt, in der die Geister leben. Das ist kein Ort für Menschen.«
Melanie überlegte, was sie über Geister wusste, und plötzlich wurde ihr ganz flau im Magen. »Du meinst – Totengeister? Gespenster und so etwas?«
»Vor allem ›und so etwas‹«, sagte Asarié. »Nimm meine Hand. Und lass erst los, wenn wir sicher drüben angekommen sind.«
Melanie tat es. Sie war jetzt überhaupt nicht mehr müde; dafür hatte sie Bauchweh. Hätte sie doch nie, nie diese Aufgabe von Isarde und Idore übernommen! Hätte sie doch nie dieses dumme Versprechen abgegeben! Aber jetzt war es zu spät.
Philipp kam ins Wohnzimmer, und Asarié nickte ihm zu. »Du weißt, was zu tun ist. Mach die Schranktür hinter uns zu, aber schließ nicht ab.«
»Schon klar«, sagte Philipp. »Gute Reise. Und gute Reise, Melanie.«
Sie war zu aufgeregt, um ihm zu antworten. Asarié trat einen Schritt nach vorne, auf den Spiegel zu, und Melanie stolperte hinter ihr her. Sie sah die milchig weiße Fläche auf sich zukommen, erwartete schon den Aufprall – aber Asarié verschwand darin und zog Melanie mit sich.
Es war, als sei sie an allen Orten gleichzeitig. Sie konnte Asarié nicht sehen, hielt aber noch immer eine unsichtbare Hand fest umklammert. Um sie herum war Feuer – nein, Nebel – nein, fester Fels – oder doch Wasser? – ein blitzschneller, wirbelnder Wechsel aus Licht, Farbe und Dunkelheit, Schreie in der Ferne und verzerrte Schemen, die so nah an ihr vorbeihuschten, dass ihre Berührung auf d er Haut brannte. Aber bevor sie noch in Panik geraten konnte, stolperte sie aus etwas Rötlichem heraus und stand in einem hohen, runden Zelt, in dessen Mitte ein Feuer brannte. An den Wänden lagen Matten und bunte Wolldecken, und das rötliche Ding, aus dem sie herausgetreten waren, war ein hoher Spiegel aus einem gehämmerten rotgoldenen Metall.
Asarié stand neben ihr. Sie hatte sich verändert; statt des eleganten Kostüms und des weißen Mantels trug sie nun ein wadenlanges weinrotes Kleid und darunter schwarze Stiefel. Ihre langen, weißblonden Haare waren zu einem Knoten aufgesteckt. Sie sah fremd aus, beinahe königlich. Melanie schaute an sich herunter und stellte fest, dass sie nicht annähernd so königlich gekleidet war. Sie trug eine Hose, ein dickes, warmes Hemd mit Stickereien und weiche Stiefel, alles aus Leder.
Neugierig und erleichtert, dass die Reise so glimpflich verlaufen war, schaute sie sich um. »Wo sind wir?«
»Bei den Tesca«, antwortete die Zauberin.
Melanie zuckte zusammen. »Den Werwölfen? Aber –«
»Richtig.« Asarié hörte gar nicht zu. »Ist dir auf dem Geisterweg etwas aufgefallen?«
Melanie schaute sich nervös um. Vielleicht war eine der dunklen Decken dahinten gar keine Decke, sondern ein Wolf?
»Melanie!«, sagte Asarié scharf, und sie fuhr wieder zusammen.
»Entschuldigung. Nein, was war denn da?«
»Kannst du die Vögel spüren?«
»Wie denn?« Aber noch während Melanie die Frage stellte, kannte sie schon die Antwort. Es war dasselbe seltsame Gefühl, das ihr auf dem Feld gesagt hatte, dass sie verfolgt u nd beobachtet wurden. Sie horchte in sich hinein – oder nach draußen in eine fremde Welt, aber da war nichts. Erleichtert blickte sie Asarié an. »Sie sind nicht da.«
Die Zauberin
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