Im Bann des Nekromanten: Die Chroniken des Beschwörers - 1. Roman (German Edition)
Seite an Seite, bis Carroway schließlich das Schweigen brach.
»Geht es dir gut?«, fragte er verlegen. »Du siehst ein bisschen mitgenommen aus.«
Tris rang sich ein mattes Lächeln ab. »Ich werde drüber wegkommen.«
Carroway sah aus, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich dann anders und setzte neu an. »Tris, bevor deine Großmutter starb … hat sie dir da je gesagt, dass du –«
»Dass ich ihr Magiererbe bin?«, ergänzte Tris seine Frage mit einem Anflug von Bitterkeit in der Stimme. »Nein. Aber dann wiederum sind da Sachen, die ich in meinen Träumen sehe, Wirken, die ich mit ihr durchgeführt habe und an die ich mich überhaupt nicht erinnere.« Er schwieg einen Moment lang und starrte auf seine Hände. »Werden Magier geboren oder gemacht?«, sinnierte er. »Du weißt ja, dass ich die Gespenster im Palast schon immer sehen konnte, mit ihnen reden konnte – nicht nur an Spuken, sondern das ganze Jahr über. Aber das hier …« Seine Stimme verlor sich.
»Deine Großmutter war die größte Seelenruferin aller Zeiten«, meinte Carroway nachdenklich. »Ich habe mich oft gefragt, warum niemand in ihrem Geschlecht ihre Begabung zu haben schien. Ich schätze, die Antwort darauf haben wir jetzt.«
Tris’ Kopf tat immer noch weh, aber er spürte, dass Carroway begreifen musste. »Als ich klein war, ließ Großmutter mich oft mitkommen und ihr zusehen, wie sie ihre Wirken vollführte. Als ich älter wurde, durfte ich ihr helfen – einfache Dinge, wie eine Flamme rufen und damit eine Kerze oder das Kaminfeuer anzünden, kleine Wirken eben. Es gab einige, bei denen du auch helfen durftest«, sagte er, und Carroway nickte. »Ich dachte immer, das sei ihre Art, mir etwas Besonderes zu geben, weil ich nur der Zweitgeborene war.« Tris lächelte seinen Freund schief an. »Wir wissen ja alle, dass zweite Söhne nur Ersatzteile sind. Als sie uns Verschwiegenheit schwören ließ, dachte ich, es sei wegen Jared, der einen Tobsuchtsanfall kriegen würde, wenn er erführe, dass ich etwas machen durfte und er nicht.«
Tris machte eine Pause und wartete, bis der Dolch, der sich gerade in seinen Kopf gebohrt zu haben schien, wieder herausgezogen wurde. »Und dann, unmittelbar bevor ich zu meinen Pflegeeltern zog, brachte sie dich häufiger zu unseren Sitzungen mit, und wir wirkten kompliziertere Magie. Als ich von meiner Pflegefamilie zurückkam, war Großmutter krank.« Er sah zum Horizont und erinnerte sich. »Weißt du nicht mehr? Sie verlangte, dass ich es sein sollte, der ihr Essen und Trinken bringt und sich um ihre Bedürfnisse kümmert. Sie hatten wohl keine bessere Verwendung für mich, also ließen sie mich. Ich war bei ihr, als sie starb.«
»Ist damals etwas … Ungewöhnliches … vorgefallen?«, ermutigte Carroway ihn fortzufahren.
Tris blickte ihn an und runzelte die Stirn wegen der Kopfschmerzen und wegen der Lücke in seinem Gedächtnis. »Ich erinnere mich nicht mehr; das ist das Problem. Es ist mir vorher nie aufgefallen, aber es scheint ganze Zeitspannen zu geben, die ich mit ihr verbracht habe, an die ich mich nicht erinnern kann. Göttin, ich habe es versucht! Aber es gelingt mir nicht.« Er sah auf die Zügel in seinen Händen hinab. »Neulich bei der Karawane haben Carina und Alyzza mir bei einigen grundlegenden Dingen geholfen. Großmutter war mir in einem Traum erschienen und hatte mir erzählt, dass ich mich erst dann wieder an ihre Ausbildung erinnern würde, wenn ich sie bräuchte, denn zu meiner eigenen Sicherheit habe sie selbst dafür gesorgt, dass ich sie vergesse.« Er stieß ein abgerissenes, freudloses Lachen aus. »Tja, ich kann mir nicht vorstellen, sie jemals mehr zu brauchen als jetzt, aber bisher erinnere ich mich an nichts.«
Carroway hatte ihm schweigend zugehört, als ob er die Bedeutung des Gesagten sorgfältig abwägte. »Vielleicht«, meinte er schließlich, »wird alles klarer, wenn wir die Bibliothek erreichen.«
»Ich hoffe, du hast recht«, sagte Tris inbrünstig, »denn es steht viel auf dem Spiel.«
Sie nahmen ihr Frühstück kalt und im Sattel zu sich und hätten dasselbe auch mit dem Mittagessen gemacht, wenn Carina nicht darum gebeten hätte Halt zu machen. Ausnahmsweise zankten sie und Vahanian sich nicht die ganze Zeit. Die Ereignisse am Brunnen warfen ihre Schatten über sie, dachte Tris. Er war dankbar, als der Tag ohne weitere Überraschungen verging und der Abend hereinbrach. Das Lager, das sie in dieser Nacht aufschlugen, war nur noch wenige
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