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Im Bann des roten Mondes

Im Bann des roten Mondes

Titel: Im Bann des roten Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hastings
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des Anführers wurde lauter. Ein zweiter Mann kam hinzu, und sie spürte etwas Kühles, Säuerliches auf den Lippen. Es schmeckte wie dicke, saure Milch mit ranzigem Fett. Désirée wurde von Ekel geschüttelt. Nicht genug damit, schmierten sie ihr den Rest dieser Pampe ins Gesicht. Schwach versuchte sie sich zu wehren.
    »Du hast einen schlimmen Sonnenbrand«, sagte der Anführer, der als Einziger französisch zu sprechen schien. »Und Fieber.« Er deckte sie mit einer dicken, gewebten Wolldecke zu. Sie wollte die Decke wegstoßen, weil Schweiß auf ihre Stirn trat. Im gleichen Moment begann sie zu frieren, und ein heftiger Schüttelfrost erfasste sie. Von fern vernahm sie die Stimmen der Männer, die sich leise miteinander unterhielten. Ihre Sinne schwanden wie das Licht des Mondes. Über der Wüste breitete sich der kristallklare Himmel wie das indigoblaue Tuch der Tuareg aus.
    Der Tag war noch nicht angebrochen, als sie geweckt wurde. Désirée fühlte sich elend und schwach. Sie war nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft zu erheben. Jemand flößte ihr wieder etwas Kühles ein, das sie begierig schluckte. Sie schmeckte nichts. Dieser Sinn schien bereits nicht mehr zu funktionieren. Auch sah sie kaum etwas, alles verschwamm vor ihren Augen. Sie spürte, wie sie auf das schwankende Kamel gehoben und von starken Händen gehalten wurde. Die schaukelnden Bewegungen verursachten ihr Übelkeit.
    Längst hatte sie auch das Zeitgefühl verloren und dämmerte stumpf vor sich hin, nur unterbrochen durch einen Kraft raubenden Wechsel aus glühenden Hitzewallungen und Schüttelfrost. Irgendwann stockte die Karawane wieder. Sie registrierte es kaum. Dann spürte sie, wie sie von ihrem Kamel gehoben und in ein Zelt getragen wurde.
    Ein Zelt? Sie riss die Augen auf und versuchte etwas zu erkennen. Es war dämmrig in dem Zelt, und es roch nach Ziegenhaar und Fett. Sie sah zwei Gesichter. Es waren die Gesichter zweier Frauen. Zu Désirées Verwunderung waren sie unverschleiert. Die eine war jung und ausgesprochen hübsch, die andere um etwa eine Generation älter, aber sie musste eine ebensolche Schönheit gewesen sein. Ihre Gesichter strahlten Stolz und Anmut aus.
    Die Jüngere beugte sich zu ihr herab und hielt ihr eine flache Schale an die Lippen. Désirée trank, und es schmeckte wieder nach saurer Kamelmilch. Aber sie erfrischte und löschte den brennenden Durst in ihrem Inneren. Irgendetwas befand sich auf ihrem Gesicht. Als sie danach fasste, griff sie in etwas Schmieriges. Die Ältere hielt ihr Handgelenk fest, um sie daran zu hindern. Dann sagte sie etwas in ihrer kehligen, unbekannten Sprache. Es roch nach Ziegenbutter.
    Ich muss diese Sprache lernen, dachte Désirée. Ich muss wissen, was sie sagen. Es ist ein sonderbares Volk, dessen Männer verschleiert auf Kamelen reiten und Karawanen überfallen, und dessen Frauen keine Schleier tragen und sehr hübsch sind. Offenbar hat ihre Religion mit dem Islam nur wenig gemein. Dafür pflegen sie eine ungewöhnliche Lebensweise. Natürlich war Désirée ärgerlich und ungehalten darüber, wie die Männer sie behandelt hatten. Gefangen genommen, entführt. Und doch! Désirée war neugierig geworden, das Geheimnis der Tuareg zu lüften. Ähnlich wie bei Ausgrabungen packte sie ein seltsames Fieber, eine Leidenschaft, die sie nur schwer unterdrücken konnte. Zum ersten Mal fragte sie sich, warum sie immer nur das Leben längst vergangener Völker erforschte.
    Früher, wenn sie ihren Vater auf Ausgrabungen begleitete hatte, war sie oft abends allein durch die freigelegten Ruinen gegangen. Dann hatte sie sich vorgestellt, wie das Leben gewesen war, als es hier noch Menschen gab. Als der König in seinem Palast lebte, mit seiner Königin, seinen Konkubinen, seinen Sklaven und Priestern. Als die Bauern vor dem Stadttor ihre Waren anpriesen, als prachtvolle Zeremonien stattfanden, Kriege und Intrigen, Liebesdramen ...
    Dieses Volk hier war nicht untergegangen. Désirée hatte zum ersten Mal die Gelegenheit, inmitten eines unbekannten Volkes zu leben, ihre Sitten und Gebräuche zu studieren. Das war ungemein aufregender!
    Wenn sie sich nur nicht so elend fühlen würde! Und wenn sie nur die Frauen verstehen würde! Aber vielleicht sprachen sie auch Französisch wie ihr Anführer?
    »Wo bin ich?«, wollte sie wissen und richtete sich auf.
    Die Ältere drückte sie wieder in das Polster zurück. Erschrocken schob Désirée ihre Hand weg. »Mir geht es gut! Ich will wissen, wo ich bin.

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