Im Bann des Vampirs: Fever Saga 1 (German Edition)
ihnen zu sprechen, wann immer man Sorgen hat oder traurig ist. Das nenne ich morbid. Sogar bizarr. Hunde vergraben auch Knochen.
Jetzt sehe ich die Demarkationslinien, wo immer ich gehe und stehe. Der Liffey ist eine von ihnen; er teilt die Stadt nicht nur in eine Nord- und eine Südhälfte, sondern bildet auch eine soziale und wirtschaftliche Grenze.
Der Süden mit dem Tempel-Bar-Bezirk, dem Trinity College, dem National Museum und dem Leinster House, um nur einige von den vielen Sehenswürdigkeiten zu nennen, ist die Hälfte, in der ich mich bis dahin aufgehalten habe, und gilt allgemein als der Teil, in dem sich die Reichen, die Snobs und die Freizügigen wohlfühlen.
Die Nordhälfte hat die O’Connell Street mit den wunderbarenStatuen und Monumenten, den Moore Street Market, St. Mary’s Pro-Cathedral, das Custom House am Liffey – hier wohnen die Arbeiter und die Armen.
Wie bei den meisten Grenzen verwischt sich auch hier manches. Es gibt Nischen und Winkel auf beiden Seiten des Flusses: Wohlstand und Luxus im Norden, Armut und Verfall im Süden; dennoch wird niemand abstreiten, dass im Süden ein anderes Lebensgefühl vorherrscht als im Norden. Jemandem, der nie auf beiden Seiten des Liffey war und mitbekommen hat, wie die Menschen dort reden und sich bewegen, ist das schwer zu vermitteln.
Der Taxifahrer, der mich in die Nordhälfte fuhr, schien keineswegs begeistert zu sein, dass ich in der Allen Street abgesetzt und allein gelassen werden wollte, aber ich steckte ihm ein großzügiges Trinkgeld zu und er fuhr weg. In den letzten Tagen hatte ich zu viel Schockierendes in den heruntergekommenen Stadtvierteln gesehen, um mich von diesem allzu sehr beeindrucken zu lassen – zumindest nicht am Tage.
Die Sackgasse, in der Alinas Leichnam gefunden worden war, hatte nicht einmal einen Namen. Sie war mit Kopfsteinen gepflastert, die im Laufe einer langen Zeit uneben und rissig geworden waren, und einige hundert Meter lang. Auf der rechten Seite standen Mülltonnen und Container zwischen fensterlosen Ziegelmauern von schäbigen Mietshäusern, auf der linken befand sich ein Lagerhaus, dessen Fenster und Türen mit Brettern vernagelt waren. Alte Zeitungen, Pappkartons, Bierflaschen und Abfall lagen überall herum. Das Ambiente war dem des verlassenen Viertels ganz ähnlich. Und ich hatte nicht die Absicht, lange genug hierzubleiben, um zu sehen, ob die Straßenlaternen noch funktionierten.
Dad wusste nicht, dass ich mir die Fotos von der Polizeiangesehen hatte, die er unter einem blau-silbernen Schnellhefter mit dem Finanzplan für Miss Myrna Taylor-Hollingsworth versteckt hatte. Und um ehrlich zu sein, ich hatte keine Ahnung, wie er sie in die Hände bekommen hatte. Soweit ich wusste, gab die Polizei normalerweise solche Dinge nicht trauernden Eltern, insbesondere keine so drastischen, grausamen Fotos von einem Mordopfer. Die Leiche identifizieren zu müssen war schon schlimm genug gewesen.
Ich hatte die Fotos am Tag vor meiner Abreise nach Irland gefunden, als ich in Dads Arbeitszimmer eine Handvoll Stifte stibitzt hatte.
Als ich jetzt bis zum Ende der Gasse ging, hatte ich diese Fotos wieder vor Augen. Genau hier, zu meiner Rechten, hatte Alina gelegen – vor der Ziegelmauer, die die Straße abschnitt und eine weitere Flucht unmöglich gemacht hatte. Ich wollte nicht wissen, ob sie sich die Fingernägel abgebrochen hatte bei dem verzweifelten Versuch, die Mauer hochzuklettern und dem zu entkommen, was ihr auf den Fersen gewesen war, also senkte ich den Blick zu dem Fleck, auf dem sie gestorben war. Als sie gefunden wurde, hatte sie in sich zusammengesunken an der Mauer gelehnt. Ich erspare Ihnen die Details, von denen ich wünschte, ich wüsste sie selbst nicht.
Getrieben von einer scheußlichen Leere und Dunkelheit in mir, sank ich auf das dreckige Pflaster genau in die Position, die meine tote Schwester eingenommen hatte. Auf den Fotos war Blut auf den Steinen und der Ziegelmauer zu sehen, aber der Regen hatte mittlerweile alle Zeichen ihres Kampfes weggewaschen. Hier hatte sie ihren letzten Atemzug getan. Hier waren alle Hoffnungen und Träume von Alina Lane gestorben.
»Gott, du fehlst mir so sehr, Alina!« Ich fühlte mich soverletzlich und wieder flössen die Tränen. Ich schwor mir, heute zum letzten Mal zu weinen. Und ich hielt mich wirklich einige Zeit daran.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie lange ich so dasaß, bis ich das Kosmetiktäschchen, das Mom Alina zu Weihnachten geschenkt hatte,
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