Im Bann des Vampirs: Fever Saga 1 (German Edition)
kann nur ein Gefühl beschreiben: Früherwar ich auf zwei Füßen durchs Leben gegangen, jetzt konnte ich nur noch kriechen. Und ich wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis ich wieder auf die Beine kommen und das Gleichgewicht halten konnte. Zudem schwante mir, dass ich nie wieder so selbstbewusst wie vorher auftreten konnte.
Ich weiß nicht, wie lange ich dagesessen und geweint hatte, aber irgendwann pochte mein Schädel so sehr, dass ich nicht mehr weinen konnte.
Am Anfang dieser Geschichte erwähnte ich, dass Alinas Leiche Meilen entfernt vom Clarin House in einer verdreckten Gasse jenseits des Flusses Liffey gefunden wurde. Und dass ich das so genau wusste, weil ich die Fotos vom Fundort gesehen hatte und in diese Gasse gehen würde, um richtig von Alina Abschied zu nehmen, bevor ich Irland verließ.
Ich hievte mich von der Couch, ging in mein Zimmer, stopfte Geld und meinen Reisepass in die Jeanstasche, damit mich nichts daran hinderte, den Speer schnell ziehen zu können, wenn es nötig werden sollte. Dann schlang ich den Riemen der Tasche über die Schulter und zog mir eine Baseballkappe tief ins Gesicht, setzte meine Sonnenbrille auf und verließ das Haus, um auf der Straße ein Taxi anzuhalten.
Es war an der Zeit, diese finstere Gasse aufzusuchen. Aber nicht um Abschied zu nehmen, sondern um eine Schwester zu begrüßen, die ich nie wirklich gekannt hatte und nie kennenlernen würde: Alina, meine einzige Blutsverwandte, die in Dublins Schmiede geformt worden war, ihre eigenen grausamen Lektionen gelernt und schwere Entscheidungen getroffen hatte. Wenn sie in all den Monaten hier nur halb so viel erlebt hatte wie ich, dann verstand ich, warum sie so und nicht anders gehandelt hatte.
Ich erinnere mich, dass Dad und Mom sie zweimal hier besuchen wollten. Beide Male hatte Alina sie überzeugend davon abgehalten. Beim ersten Mal schützte sie eine Krankheit vor, deretwegen sie viel von ihrem Lernstoff versäumt habe, den sie jetzt nachholen müsse. Beim zweiten Mal waren Nachprüfungen der Vorwand. Mich lud sie gar nicht erst nach Dublin ein und als ich ihr erzählte, dass ich Geld für einen Flug sparen würde, riet sie mir, es lieber für hübsche Klamotten, gute Musik und beim Ausgehen auszugeben und beim Tanzen an sie zu denken – wir hatten oft zusammen getanzt –, und ehe ich mich’s versah, wäre sie wieder zu Hause.
Jetzt begriff ich, wie schwer ihr diese Absagen gefallen sein mussten.
Würde ich, die wusste, was auf den Straßen Dublins lauerte, irgendjemandem, den ich liebte, erlauben, mich hier zu besuchen?
Niemals. Ich hätte auch nach Strich und Faden gelogen, um alle von Dublin fernzuhalten.
Wüsste ich eine kleine Schwester, meine einzige echte Verwandte, zu Hause in Sicherheit, würde ich ihr dann von alldem, was hier vor sich ging, erzählen und riskieren, sie in dieses Grauen mit hineinzuziehen? Nein. Ich würde genau das tun, was Alina auch getan hatte: meine Schwester bis zum letzten Atemzug beschützen. Dafür sorgen, dass sie so lange wie nur möglich glücklich und unbehelligt bliebe.
Ich hatte immer zu meiner Schwester aufgeschaut, aber jetzt schätzte ich sie noch mehr. Ich war gerührt von ihrer Fürsorge und hatte das Bedürfnis, an einem Ort zu sein, an dem sie gewesen war. An einem Ort, den sie geprägt hatte, und ihre Wohnung erfüllte diesen Zweck nicht. Abgesehen von dem Duft der Pfirsichkerzen und des Beautiful Parfüms, hatte ich dort ihre Präsenz kaum gespürt.Ich vermutete, dass sie nicht viel Zeit in ihrem Apartment verbracht hatte und vielleicht nur dort gewesen war, um zu schlafen oder mich anzurufen. Auch auf dem Campus konnte ich sie nicht spüren und mir fiel nur ein Ort ein, an dem ich sie intensiv fühlen würde.
Ich musste dorthin, wo sie nur vier Stunden, nachdem sie mir auf die Mailbox gesprochen hatte, gestorben war. Ich musste mich der letzten überwältigenden Trauer stellen und mir die Stelle auf dem Kopfsteinpflaster ansehen, an der sie ihr Leben ausgehaucht und die Augen für immer geschlossen hatte.
Makaber – vielleicht –, aber wenn Sie eine Schwester verloren und gerade erfahren hätten, dass Ihre Eltern nicht Ihre leiblichen Eltern sind – wer weiß, wozu es Sie drängen würde. Beschuldigen Sie mich nicht, morbide Anwandlungen zu haben – ich bin nämlich nur das Produkt einer Kultur, die die sterblichen Überreste und Gebeine ihrer Lieben in hübschen kleinen Blumengärtchen begräbt, um sie in der Nähe zu haben und mit
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