Im Bann des Vampirs: Fever Saga 1 (German Edition)
O’Bannion gewahrt, die er bei den anderen nicht gezeigt hatte, und ich wollte den Grund erfahren.
Er überlegte einen kleinen Moment. »Wenn ich inmitten der afghanischen Berge wäre und wählen dürfte, ob ich einen Mann, der mit bloßen Händen kämpft, an meiner Seite haben möchte, oder ein ganzes Arsenal moderner Waffen,würde ich mich für O’Bannion entscheiden. Weder mag ich ihn noch respektiere ich ihn, ich erkenne ihn lediglich als das, was er ist.«
Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinander her.
Ich war dankbar, die hochhackigen Schuhe los zu sein, die ich am Abend noch getragen hatte. Nachdem wir uns von O’Bannion verabschiedet hatten, war Barrons zurück zum Buchladen gerast und hatte einen ausführlichen Bericht über das, was ich gespürt hatte, gefordert. Nachdem ich seiner Bitte Folge geleistet hatte, ließ er mich allein, um sich »mit den Feinheiten des Dubliner Kanalsystems vertraut zu machen«, wie er sagte.
Währenddessen ging ich hinauf in mein Zimmer, weil ich mich umziehen wollte. Ich dachte, das passende Outfit, um in Kanälen herumzukriechen, könnte ich ohne fremde Hilfe finden – etwas Altes, Dunkles, Gammeliges.
Wir fuhren in einem dunklen, unauffälligen Wagen, der in Barrons’ Garage ganz hinten gestanden hatte, in die Nähe von O’Bannions Bar und Restaurant, ließen ihn etliche Blocks von unserem angepeilten Ziel entfernt am Straßenrand stehen und gingen zu Fuß weiter.
»Bleiben Sie einen Moment hier stehen.« Barrons legte die Hand auf meine Schulter und hielt mich zurück, er selbst ging mitten auf der Straße. Er war wieder ganz der Alte und nahm mehr Raum ein, als ihm zustand. Er hatte sich auch umgezogen und trug jetzt eine ausgeblichene Jeans, ein schwarzes T-Shirt und abgewetzte schwarze Stiefel. Zum ersten Mal sah ich ihn in einem so … ja, in einem für seine Verhältnisse plebejischen Aufzug und der gestählte, muskelbepackte Körper war schlichtweg unglaublich, wenn man eine Schwäche für diesen Typ Mann hatte. Zum Glück hatte ich die nicht. Es war, als würde man einen kräftigen schwarzen Panther beobachten, wie er sich anschlich – mitblutigem Schaum vorm Maul, in Straßenkleidern – richtig unheimlich.
»Sie machen Witze«, sagte ich, als er einen Kanaldeckel anhob, in den Schacht stieg und mich zu sich winkte.
»Was dachten Sie denn, wie wir in das Kanalsystem kommen, Miss Lane?«, sagte er ungeduldig.
»Ich dachte gar nichts. Diesen Gedanken muss ich verdrängt haben.« Ich ging zu ihm. »Sind Sie sicher, dass es nicht irgendwo eine Treppe gibt?«
Er zuckte mit den Schultern. »Es gibt eine. Aber sie ist kein günstiger Zugang für uns.« Er sah zum Himmel. »Wir müssen so schnell wie möglich rein und wieder raus, Miss Lane.«
Das verstand ich. Bald würde es dämmern, dann belebten sich die Straßen von Dublin. Es wäre kaum angebracht, mitten im Morgenverkehr oder, noch schlimmer, nur Zentimeter vor einer Stoßstange aus einem Kanalschacht zu steigen.
Ich stand über dem offenen Loch in der Straße und spähte ins Dunkel. »Ratten?«, fragte ich niedergeschlagen.
»Bestimmt.«
»Also, gut.« Ich atmete tief durch. »Schatten?«
»Da unten gibt’s nicht genügend Nahrung für sie. Sie bevorzugen die Straßen. Nehmen Sie meine Hand, ich lasse Sie hinunter, Miss Lane.«
»Und wie sollen wir wieder nach oben kommen?«
»Für den Rückweg habe ich eine andere Route im Sinn.«
»Über eine Treppe?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Nein.«
»Natürlich nicht. Wie dumm von mir. Und auf dem Rückweg«, sagte ich in meinem besten Game-Show-Ansager-Ton, »erklimmen wir den Mount Everest. Die Wanderstiefelwerden von unserem treuen Sponsor B ARRONS B OOKS AND B AUBLES zur Verfügung gestellt.«
»Sehr amüsant, Miss Lane.« Er hätte mich nicht weniger amüsiert ansehen können. »Jetzt los.«
Ich ergriff seine ausgestreckte Hand, rutschte in den Schacht und ließ mich fallen. Bestimmungsort: ein finsteres, noch furchterregenderes Dublin, tiefer Untergrund.
Sechzehn
Wie sich herausstellte, war es hier unten gar nicht so unheimlich. Genau genommen nicht halb so beängstigend wie in den letzten Tagen auf der Erdoberfläche.
In den düsteren, dreckigen Kanälen unter der Stadt wurde mir erst richtig klar, wie drastisch sich meine Welt verändert hatte, und das in so kurzer Zeit.
Was war eine Ratte mit kleinen Knopfaugen und zuckendem Näschen – oder sogar ein paar hundert – schon im Vergleich mit dem Grauen Mann? Was konnten
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