Im Bann seiner Küsse
in die Augen.
Der stumme Jammer des Mädchens zerriss Tess das Herz. Niemand wusste besser als sie, was es hieß, allein aufzuwachsen, ohne Mutter, von der man lernen oder an die man sich wenden konnte. Vom Tag an, als ihre Mutter starb, hatte in Tess' Seele ein kleiner Schmerz genagt, eine Leere.
Sie wusste, dass es dieselbe Leere war, die Savannah die Farbe aus den Wangen gesogen und das Lächeln von ihren Lippen gestohlen hatte.
Du warst immer eine Heilende, Tess. Diese Worte fielen Tess ein, und sie erkannte die Wahrheit in ihnen. Sie musste diesem armen, verängstigten Mädchen helfen.
Sie versuchte etwas zu sagen, irgendetwas, das einen Anfang ermöglichte. »Ich ... ich weiß, dass ich rein äußerlich deine Mutter bin und dass du mir nicht traust, aber innerlich habe ich mich ... verändert.«
Savannah machte sich nicht die Mühe, sie anzuschauen. »Was meinst du damit?«
»Ich schäme mich dafür, wie ich dich und Katie und Daddy behandelt habe.«
Savannahs Reglosigkeit war so vollkommen, dass es aussah, als atme sie nicht mehr. Sie drehte sich ein wenig um und starrte Tess mit ihren großen blauen Augen an. »Wirklich?«
Das leise ausgesprochene Wort enthüllte einen Funken Hoffnung, der tief unter einem Berg des Misstrauens begraben lag. Tess konnte sehen, wie verzweifelt Savannah glauben wollte und nicht konnte. Noch nicht.
»Hör zu«, sagte Tess. »Ich schlage dir ein Abkommen vor.«
»Was?«
»Du bringst mir bei, eine Mutter zu sein - du weißt schon, Kochen, Putzen, das alles - und ich bringe dir und Katie bei, was es heißt, Spaß zu haben.«
Savannah sah sie wachsam an. »Das wissen wir schon.«
»Das glaube ich nicht.«
»Außerdem bist du schon Mutter.«
»Aber nach allem, was ich weiß, keine besonders gute. Das möchte ich ändern. Willst du mir helfen?«
Savannah studierte sie lange und wortlos, ehe sie langsam nickte. »Aber sicher, Mama.«
Tess lächelte. »Danke, Liebes. Ich werde dich nicht enttäuschen.«
Tess schleppte den schweren Eimer mit der warmen Milch zum Haus. Über die welligen, steinigen Weiden, auf denen die Schafe wie dunkle, weiche Wattebausche verteilt waren, senkte sich die Morgendämmerung und färbte den Himmel rosig und purpurn.
Sie hielt inne und sah um sich. Im Halbdunkel des heraufdämmernden Tages sah man, wie gut die Farm in Schuss war. Die Zäune waren fest und aufrecht, das Haus sauber und weiß. Alles war tadellos in Ordnung, doch es fehlte an liebevollen Kleinigkeiten. Es gab keine Blumen am Weg oder um den Stamm der Eiche, keine Blumenkästen an der Veranda, keine Windglocken, die vom Vordach hingen. Eine einzige knorrige und halb abgestorbene Wildrose umrankte das Verandageländer und schlang sich um den Pfosten.
Als sie den Eimer abstellte, traf er auf dem steinharten Boden mit platschendem Klirren auf. Warme Flüssigkeit spritzte auf Tess' bloße Füße. Sie drehte sich um, warf einen Blick zurück zur Scheune und dachte an ihr Gespräch mit Savannah.
Es war gut gelaufen. Reden war zwar nur eine Kleinigkeit, ein sanfter kleiner Vorwärtsschritt, aber immerhin ein Anfang.
Dann dachte Tess an ihre eigene einsame Kindheit, dachte daran, wie viel es ihr bedeutet hätte, wenn jemand nur einen Moment lang versucht hätte, Zugang zu ihr zu finden. Sie war so ausgehungert nach Zuwendung und Liebe, dass sie sich auch über eine simple Kleinigkeit wie ein Lächeln gefreut hätte. Irgendwie war sie sicher, dass es bei Savannah ähnlich gelaufen war. Das Mädchen wagte nicht, an sie zu glauben, weil ihre Mutter sie offenbar sehr lange ignoriert hatte, doch durch die Angst schimmerte ein Körnchen Hoffnung. Ein Wunsch und ein Gebet.
Zum ersten Mal, seitdem sie in diesem Jahrhundert erwacht war, spürte Tess so etwas wie Zielstrebigkeit und Hoffnung. Ein Schatten ihres alten Eifers regte sich wieder. Sie konnte diesen Menschen helfen, indem sie Fröhlichkeit in ihr Leben brachte und sie aus ihrer trüben Stimmung riss. Vielleicht konnte sie auch ihr eigenes Gemüt ein wenig aufheitern.
In dem kurzen Moment, als Carol ihr Jack zeigte, hatte sie erkannt, dass er verzweifelt jemanden brauchte. Es war der Schmerz in seinen Augen, der sie angezogen hatte. Der Schmerz und noch etwas. Damals hatte sie es noch nicht gewusst, nun aber war ihr klar, dass seine Traurigkeit, die sie allzu gut verstand, sie angesprochen hatte, die schmerzliche Einsamkeit eines Menschen, der sich danach sehnt, Teil einer Familie zu sein, und seinen Platz darin nicht finden
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