Im Bann seiner Küsse
und schaute weg. Jack hätte stolz sein sollen, weil er sie bei ihrem gemeinen Spielchen geschlagen hatte, doch ihm war nicht danach zumute.
»Iss lieber, damit du zu Kräften kommst«, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfallen wollte.
Sie gab keine Antwort. Stattdessen schälte sie Caleb aus seiner blauen Wolldecke. Die weichen, schläfrigen Atemzüge des Neugeborenen schwebten ihr entgegen.
Als er in das runzlige Greisengesicht des Babys starrte, wurde Jack von seinen Gefühlen fast überwältigt, aber er hatte kein Recht, so zu fühlen, wie er genau wusste. Er ballte die Hände an seinen Seiten zu nutzlosen Fäusten. Die Enge in seiner Brust ließ ihn rascher atmen.
Er hatte kein Recht auf diese Gefühle, kein Recht, Vaterliebe zu empfinden.
Unsicher trat er zurück. »Jetzt gehe ich.«
Da schaute Tess zu ihm auf, und in ihrem Blick lag eine Sanftheit, die ihn fast in die Knie zwang. »Ist sie schuld?«, flüsterte sie. »Hat sie etwas getan, weshalb du so geworden bist?«
Es war eine dumme, unverständliche Frage, und Jack war erleichtert, dass er nicht zu antworten brauchte. Mit einem knappen Nicken drehte er ihr den Rücken und ging hinaus.
Tess richtete den Blick auf den Bettpfosten und überlegte, ob sie Kerben hineinschneiden sollte. So wie die Tage ineinander übergingen, würde sich unweigerlich bald die Frage stellen, wie lange ihre einsame Abgeschiedenheit schon währte. Bis jetzt waren es fünf Tage. Fünf der längsten und langweiligsten Tage ihres Lebens. Falsch, dachte sie, ihrer Leben.
Sie schaute auf das Baby in ihren Armen und empfand eine mittlerweile vertraute Aufwallung von Mutterliebe. Der Höhepunkt der letzten Woche war die Chance gewesen, zu Caleb eine Bindung herzustellen. Allmählich fühlte sie sich wirklich wie seine Mutter.
Mochte dieses aufkeimende Gefühl auch aufregend und erfüllend sein, wog es doch das nagende Gefühl der Isolation, das sie empfand, nicht auf. Wenn Caleb schlief und sie allein in ihrem großen Bett in dem viel zu stillen Raum lag, empfand sie Traurigkeit, die nicht wieder von ihr weichen wollte.
Oh Gott, sie hatte es so satt, einsam zu sein.
»Na, Kleiner«, sagte sie zu Caleb, »wie denkst du über einen globalen thermonuklearen Krieg? Oder über den Treibhauseffekt - glaubst du daran?«
Er machte ein Bäuerchen und spuckte.
Einen kurzen Augenblick lang hatte sie den Eindruck, er würde antworten.
Sie war kurz davor, völlig durchzudrehen. Ihr scharfer, wissenschaftlich geschulter Verstand verwandelte sich langsam und unwiderruflich zu Gefühlsbrei. Sie war nicht mehr sehr weit vom blanken Irrsinn entfernt.
Die letzten Wochen waren schier unerträglich gewesen, weil sie seit dem Abend, als Jack sie angebrüllt hatte, weil sie gegen irgendeine ihr nicht bekannte Regel verstieß, kein richtiges Gespräch mehr mit einem menschlichen Wesen geführt hatte. Im Rückblick kam ihr deshalb sogar dieser kleine Zusammenstoß mit Jack wie eine anregende Abwechslung vor.
So konnte sie nicht leben. Versucht hatte sie es. Sie hatte sich eingeredet, alles würde gut, wenn sie sich nur zurücknahm und tat, was man von ihr erwartete.
Das Problem war, dass nichts von ihr erwartet wurde. Gar nichts. Alle schlichen um Tess herum, als wäre sie ein Stück Sprengstoff mit brennender Zündschnur ... leise, hastig und ohne sich umzublicken. Sie kam sich vor wie ein Gespenst, unerwünscht und unsichtbar.
Tess ertrug es nicht. Da war sie, eine gesunde Frau mit intaktem Gehör und melodiösem Südstaatenakzent, und hatte niemanden, mit dem sie reden konnte. Und zu hören gab es auch nichts. Wie zuvor lebte sie in einer Welt schmerzlicher Stille und Isolation.
Man ignorierte sie. Ganz und gar.
Gewiss, Savannah kam zweimal am Tag, brachte ihr die Mahlzeiten und einen Stapel zusammengefalteter Tücher für »du weißt schon, weibliche Bedürfnisse«. Sie nickte ihrer Mutter wortlos zu, murmelte gelegentlich »Guten Morgen« - das war dann immer ein guter Tag in Tess' Bilanz - sehr viel häufiger aber sagte sie gar nichts. Sie stellte das Tablett auf das Tischchen neben dem Bett, nahm den kleinen Eimer mit den benutzten Tüchern und ging wieder.
Bis zum Abendessen bekam Tess dann keinen Menschen mehr zu sehen. Dann ließ Savannah dieses Ritual noch einmal ablaufen. Jack und Katie hatten nicht einmal die Köpfe hereingesteckt, um hallo zu sagen.
Einen ganzen Monat lang nur einen einzigen Menschen und niemanden anderen zu Gesicht zu bekommen, zumal wenn dieser
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