Im Bann seiner Küsse
Mensch einen anschaute, als wäre man aussätzig, war nicht nach ihrem Geschmack.
Die erste Zeit war gar nicht so übel verlaufen. Tatsächlich war es eigentlich ganz angenehm, versorgt zu werden. Sie hatte schlimme Schmerzen gelitten und zwischen dem Stillen ihrem großen Schlafbedürfnis nachgegeben. Mittlerweile schlief Caleb fast die ganze Nacht durch, und sie fühlte sich schon recht gut. Schmerzen und Blutungen waren vergangen, und mit dem Stillen klappte es tadellos. Es gab also keinen Grund mehr, den ganzen Tag in diesem Raum oder in diesem Bett zu verbringen.
Dies war nun ihr Leben, eine Erkenntnis, die sie in den letzten Tagen allmählich akzeptiert hatte. Es würde keine weitere Seelenwanderung geben, von Carol kein Eingeständnis von »war doch nur ein Scherz«.
Es war vollbracht. Jetzt war sie Amarylis - ein unmöglicher Name, gegen den sie etwas unternehmen musste - Rafferty und musste das Beste daraus machen.
Nun war Anpassung etwas, das Tess gründlich gelernt hatte. Als Kind hatte sie Pflegeeltern gewechselt wie andere Kinder ihre Unterwäsche. Und immer war es ähnlich abgelaufen: Sie war allein in einer Familie gelandet, ein mageres, in sich gekehrtes, taubes Mädchen, das eine Außenseiterin war und es blieb. Die ersten Tage hatte sie immer abgesondert in ihrem Zimmer verbracht, hatte sich bemüht, nicht zu weinen, hatte sich gewünscht, alles wäre anders. Sehr rasch war unweigerlich die Erkenntnis gefolgt, dass sich nichts ändern würde, worauf sie sich entschlossen und gezielt in die Anpassung gestürzt hatte.
Und jetzt war es wieder so weit. Sie hatte gewartet und gehofft, jemand würde sie in die Familie einladen, dann hatte sie geschmollt, weil die Einladung ausgeblieben war.
Damit ist Schluss, entschied sie. Es wurde Zeit, dass sie selbst eine Einladung aussprach.
Tess ließ sich den ganzen Tag Zeit und wartete auf den richtigen Augenblick, um eine kleine Bresche in die Familie zu schlagen. Die Situation war wie das Einfädeln in die Autobahn um Los Angeles. Vorsicht und heftiges Blinken waren angesagt.
Nachdem sie Caleb gestillt hatte, kroch sie zurück ins Bett und wartete auf Savannah. Als es vor dem Schlafzimmerfenster Nacht wurde, hörte sie die typischen Kochgeräusche.
Zum ersten Mal seit Tagen lächelte Tess. Bald würde sie den ersten Schritt tun.
Savannah erschien pünktlich mit dem Abendessen. Sie klopfte leise an und glitt dann schweigend durch den Raum, in den Händen ein Tablett, das sie geschickt auf den Tisch neben dem Bett platzierte, »'n Abend, Mama«, murmelte sie, ehe sie sich umdrehte und gehen wollte.
Tess hielt sie am Ärmel fest. »Savannah? Kann ich mal mit dir reden?«
Savannah drehte sich um und sah ihre Mutter wachsam an. »Worüber?«
Tess klopfte einladend auf die Steppdecke. »Setz dich doch.«
Das Mädchen trat ans Bett und hockte sich wie ein verschreckter Vogel auf die Kante, den Blick auf die faszinierenden Dielenbretter zwischen ihren Beinen richtend. »Ja?«
Tess benetzte ihre Lippen. »Nun ja ... ich frage mich, was deine Ma ... ich meine, was ich den ganzen Tag tue.«
Jetzt war Savannah ganz Aufmerksamkeit und sah Tess sogar an. »Was du tust?«
Tess furchte die Stirn. »Ich muss etwas tun.«
Savannah hob die Schultern in die Höhe. »Du stickst sehr viel.«
»Sticken ... das muss aber aufregend sein.«
»Du liest oft in deinen feinen Büchern.«
»Tue ich denn draußen nichts?«, fragte sie hoffnungsvoll. »Im Garten vielleicht?«
Nun war es an Savannah, die Stirn zu runzeln. »Tja ...«, sie überlegte angestrengt, »manchmal sitzt du auf der Veranda und trinkst Limonade.«
Tess seufzte. »Mit anderen Worten, du bist eigentlich die Mama in dieser Familie, während ich nur eine ... Lady bin.«
»Eine Lady aus dem Süden«, berichtigte Savannah sie. »Du sagst ja immer, dies sei ungeheuer wichtig.«
»Wirklich? Wie großmütig von mir.«
Savannah staunte mit großen Augen, als sie das hörte. »Ich muss das Geschirr spülen«, sagte sie und sprang auf.
»Nur noch eine Frage«, versprach Tess.
»Also gut«, sagte Savannah, ohne sich umzudrehen.
»Wann kommst du immer aus der Schule?«
»Um halb vier oder vier. Wenn es regnet, wird es später.«
»Und dann kochst und putzt du und bringst Katie zu Bett. Danke, Savannah. Für alles.«
»Schon gut.« Das Wort war kaum ausgesprochen, als Savannah schon draußen war.
Tess lächelte. Jetzt wusste sie, wo sie einhaken konnte. Man musste diesem armen, überlasteten Kind
Weitere Kostenlose Bücher