Im Bann seiner Küsse
Blick auf das, was er in Händen hielt.
Ein Stück Metall. Nur ein verdammtes Stück Metall. Es war gar kein Messer.
Er stand auf und machte sich auf den langen Heimweg. Mit jedem Schritt, mit jedem Atemzug wuchs seine Angst, und als die Umrisse des Hauses vor ihm auftauchten, waren seine Nerven zum Zerreißen gespannt.
»Bitte, lieber Gott«, murmelte er immer wieder, die Hände zu Fäusten geballt. »Nicht meine Kinder. Bitte ...«
Tess schlich über den dunklen Hof in den Hühnerhof und schloss das Gatter hinter sich. Seufzend fasste sie in den groben Sack und schöpfte eine Faust voller Körner heraus.
»Hier, put-put-put«, rief sie und verstreute die goldenen Körner über den Hof. Dutzende Hühner rannten ineinander und drängten sich in ihrem Eifer, die Körner aufzupicken, zu einer großen gefiederten Masse zusammen.
Tess starrte den Haufen Federvieh an, ohne ihn richtig wahrzunehmen. In Gedanken war sie meilenweit entfernt. Jack?, dachte sie heute zum tausendsten Mal. Wo bist du?
Sie war so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie einen Moment brauchte, um das Geräusch zu hören. Sie hielt inne und horchte.
Schritte.
Jack!
Tess fuhr herum und ließ den Sack mit dem Hühnerfutter fallen. Körner ergossen sich über ihre Füße. Hühner stürzten auf sie zu, umringten ihre Röcke und pickten fieberhaft an ihren Füßen.
Sofort ging sie in die Knie und fing an, die Körner wieder in den Sack zu füllen.
»Was machst du da?«
Jacks raue, aufgebrachte Stimme war das schönste Geräusch, das sie je gehört hatte. Sie hatte sich so gesorgt...
Lächelnd blickte sie auf.
Er stand ein Stück von ihr entfernt breitbeinig und mit verschränkten Armen da. Helles Mondlicht zeichnete seinen Körper nach und hob die müde Haltung seiner Schultern hervor. Sein Gesicht war ein dunkles Nichts unter einem noch dunkleren Hut.
Tess wollte etwas sagen und war erstaunt, als sie merkte, dass ihr ein Kloß in der Kehle saß. »Hi, Jack«, sagte sie leise. »Du hast uns gefehlt.«
»Wie ... wie lange war ich fort?«
Die Frage verwirrte Tess etwas. Sie kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf sein Gesicht, das völlig im Schatten lag.
Sein Seufzer klang matt und uralt. »Schon gut. Antworte nicht. Es kümmert mich nicht.«
In diesem Augenblick ging Tess ein Licht auf. Er verspottete sie nicht und neckte sie nicht. Er stellte ihr einfach eine Frage. Er wusste nicht, wie lange er weggeblieben war. Und er hatte Angst.
»Ich glaube, du bist kurz vor Tagesanbruch gegangen ... heute.«
Seine Schultern sanken vornüber. Wieder entschlüpfte ihm ein schwerer Seufzer. »Danke. Und was treibst du so spät hier draußen?«
»Ich füttere die Hühner.«
»Um diese Zeit?«
»Ich ... ich konnte nicht schlafen.«
Sein Schatten bewegte sich leicht. »Warum nicht?«
Tess fasste nach ihrem Rock und raffte sich unbeholfen auf. Sie wollte auf ihn zugehen, wollte ihn anfassen und sich überzeugen, dass er wirklich zurück war. Aber sie rührte sich nicht. Sie zwang sich, völlig reglos zu bleiben. »Du warst nicht da.«
»Ach?«
»Deshalb war ich in Sorge.«
»Ha!« Sein Auflachen war scharf wie Glas und von einem so tiefen Schmerz erfüllt, dass Tess ganz elend zumute wurde. Dann drehte er sich so jäh um, dass seine Absätze sich in den kiesdurchsetzten Boden gruben, und ging.
Zur Scheune. Verdammt.
Tess zuckte zusammen. Sie konnte ihn rufen, konnte einen Vorwand erfinden, und sei er noch so fadenscheinig, um ihn daran zu hindern, heute in die Scheune zu gehen. Aber er würde nicht hören. Würde nicht stehen bleiben. Sie spürte, wie ihr Magen sich zusammenkrampfte.
Er würde das, was sie getan hatte, nicht spaßig finden. Heute nicht.
Er verschwand in der Scheune. Tess wartete.
Zwei Minuten vergingen, dann ertönte ein markerschütternder Schrei.
»Komm sofort her, Lissa. Jetzt!«
Tess erwog kurz, ins Haus zu laufen, wusste aber, dass es sinnlos war. Er würde sie finden.
»Lissa!«
Tess drückte den Sack mit dem Hühnerfutter an sich wie ein Schutzschild und ging in entschlossener Haltung zur Scheune. Es gehört zum Plan, machte sie sich Mut, und der Plan war zu seinem Besten. Sie musste ihn überrumpeln und dafür sorgen, dass seine Überraschung anhielt. Sie musste erreichen, dass er Reaktionen zeigte.
Und was sie in der Scheune angestellt hatte, würde ihn gewiss dazu bringen.
Sie trat durch das große Tor ein. Jack stand mit dem Rücken zu ihr da. Steif wie ein Zaunpfahl starrte er die
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