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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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umklammere Grahams Arm. Das Schiff richtet sich von alleine wieder auf. Verlegen lasse ich los, bemerke die rosafarbenen Male, die meine Fingernägel auf seiner Haut hinterlassen habe. »Woher wussten Sie, dass ich zum ersten Mal in China bin?«
    »In Shanghai sahen Sie so angespannt aus, als wären sie soeben auf einem fremden Planeten gelandet. Lassen Sie mich raten. Sie stammen aus dem Mittleren Westen Amerikas. Einer Region, in der überwiegend Weizen und Mais angebaut wird.«
    »Nicht ganz. Ich lebe auf einer kleinen Insel in der Nähe von New Jersey. Vielleicht haben Sie davon gehört.«
    »New York City?«
    Ich nicke.
    »Da wollte ich schon immer mal hin.« Er füllt mein Weinglas nach.
    Die Luft riecht nach Regen, vermischt mit einem Hauch Essig. Ich merke, dass ich mich zum ersten Mal entspanne, seit Dave und ich zu unserer Chinareise aufgebrochen sind. In der Maschine vom JFK -Flughafen nach Hongkong haben wir nur gestritten. Von Hongkong bis Shanghai haben wir kaum ein Wort gewechselt. Als ich meine Hand während der letzten Etappe des Fluges über die Armlehne streckte, in der Hoffnung auf einen Waffenstillstand, zog er seine Hand weg, wie von der Tarantel gestochen. Jetzt frage ich mich natürlich, ob Graham ein Auge auf mich geworfen hat. Vielleicht sieht er mir an, dass ich meine Ehe zu kitten versuche. Verströme ich einen vagen Geruch der Verzweiflung und Vernachlässigung, der mich zur leichten Beute von Männern auf der Pirsch macht? Befänden wir uns auf freier Wildbahn, wäre ich längst tot oder trächtig, wie ich aus der Sendung Animal Planet weiß.
    »Ich sah Ihren Mann vorhin mit dem Kapitän«, sagt Graham.
    »Das wundert mich nicht. Bis morgen kennt Dave jede Menschenseele auf dem Schiff.« Ich stelle mir vor, wie er dasteht, die Hände in den Hosentaschen, und den Kapitän einem Kreuzverhör unterzieht. Er hat sich gewiss erkun digt, was es mit der Astronavigation auf sich hat, ihm nach und nach die Geschichte seiner maritimen Laufbahn entlockt, ihn nach Frau und Kindern ausgefragt. Das ist eine Eigenschaft, die ich schon immer an meinem Mann bewundert habe. Er schafft es binnen Minuten, Fremde aus der Reserve zu locken und sich mit ihnen anzufreunden.
    Graham macht es sich in seinem Liegestuhl bequem, als hätte er vor, lange darin zu verweilen. Kein einziger Stern ist am Himmel zu sehen und das Licht des Mondes wirkt äußerst gedämpft. Die runde Scheibe mit ihrem warmen Schein taucht nur von Zeit zu Zeit hinter dem dichten, langsam weiterziehenden Dunstschleier auf. Niedrige Hügel erzeugen weiche Silhouetten, die sich gegen den Himmel abzeichnen. In der Dunkelheit wirkt der Fluss schwarz und endlos.
    Graham wirft einen Blick auf mein leeres Glas. »Beeindruckend.« Er hebt die Flasche, um nachzuschenken.
    Mein Kopf fühlt sich warm und leicht benommen an. »Lieber nicht. Ich trinke nur, wenn ich nervös bin.«
    »Mache ich Sie nervös?«
    »Es passiert nicht oft, dass ich einen fremden Mann ertappe, der mich beim Schlafen beobachtet.«
    »Bei mir ist das eine Gewohnheit, wie ich zugeben muss. Die meisten Leute machen einen wesentlich freundlicheren Eindruck, wenn sie schlafen.«
    »Trifft das auch auf mich zu?«
    »Ja. Kaum waren Sie aufgewacht, haben Sie mich auch schon mit Ihren Fragen in die Mangel genommen und verlangt, dass ich alle möglichen Erklärungen über mich abgebe. Während Sie schliefen, konnte ich Sie ungehindert anschauen, ohne mir Ärger einzuhandeln.«
    »Sieh da, ein Voyeur reinsten Wassers!«
    »Sie waren ganz Sie selbst, nicht darauf bedacht, einen Schutzwall zu errichten. Genau wie heute auf dem Markt. Dave und Sie waren unter Fremden und Sie dachten, Sie würden die Leute ohnehin nie wieder sehen, deshalb mach ten Sie sich gar nicht erst die Mühe, taktvoll zu sein. Ich sah Sie sogar streiten.«
    Ich denke an die kleinen Scharmützel am Nachmittag zurück. Es gab mehrere, doch ich kann mich auf kein einziges konzentrieren. Graham sieht mich erwartungsvoll an, als rechne er damit, etwas über die Ursache meiner Eheprobleme zu erfahren.
    »In letzter Zeit geraten wir uns ständig wegen irgendwelcher Lappalien in die Haare. Dave wollte eigentlich gar nicht nach China.«
    Was ich Graham nicht erzähle, ist, dass Dave und ich seit zwei Monaten getrennt sind, dass jeder sein eigenes Leben auf entgegengesetzten Seiten des Central Park lebt. Die Chinareise hatten wir schon Monate vor der Trennung geplant und bezahlt. Es spricht für Dave, dass er verstand, wie groß

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