Im Blut vereint
Kate rutschte eilig auf dem Fahrersitz nach unten. Dann spähte sie über das Armaturenbrett. Die Bestatterin klappte das Fahrgestell der Liege ein und lud sie mit geübtem Griff in den Leichenwagen. Sie schlug die Autotüren zu und schloss dann den hinteren Zugang zum Haus ab.
Kates Herz pochte laut. Anscheinend hatte Anna Keane einen Auftrag zu erledigen. Sie stieg in den Leichenwagen und warf den Motor an. Das Fahrzeug bewegte sich langsam ein Stück vorwärts und hielt dann plötzlich an. Der Motor wurde abgestellt, und Anna Keane stieg eilig aus dem Wagen. Sie hielt ihr Handy ans Ohr gepresst, und während sie sprach, schloss sie den Hintereingang an der Ladebucht wieder auf. Sie drückte die Tür mit der Schulter auf und verschwand im Inneren.
Kate starrte hinüber. Ihre Gedanken überschlugen sich.
Ihr war im wahrsten Sinne des Wortes eine Tür geöffnet worden.
Diese Gelegenheit konnte sie sich nicht entgehen lassen.
44
Donnerstag, 17. Mai, 17:00 Uhr
Kate stieg aus ihrem Wagen und rannte über den Parkplatz, so schnell ihr enger Rock und die Pumps es erlaubten. Sie erreichte die Mülltonnen und duckte sich dahinter. Dabei trat sie in eine Pfütze, Wasser schwappte über ihre Schuhe. Sie mochte gar nicht erst darüber nachdenken, was dieses Schmutzwasser alles enthalten konnte.
Sie schaute zur Ladebucht des Bestattungsinstituts hinüber. Sie war leer. Anna Keane war jetzt seit etwa zwei Minuten im Haus. Kate schlich zur Tür, immer dicht an der Backsteinmauer entlang. Dabei lauschte sie angestrengt auf Anna Keanes Schritte. Doch sie hörte nur ihr eigenes Herz hämmern.
Die Ladebucht war nun zum Greifen nahe. Kate nahm all ihren Mut zusammen und schlüpfte durch die offene Tür.
»Die habe ich erhalten«, hörte sie Anna Keane weiter innen sagen. »Ja, die Rechnungen wurden alle heute rausgeschickt. Keine Sorge, ich habe die Sache im Griff.«
Verzweifelt schaute Kate sich nach einem Versteck um. Von dem breiten Gang ging eine Tür ab. Sie rannte hinüber und griff nach dem Türknauf.
Bitte, lieber Gott, mach, dass die Tür nicht verschlossen ist.
Der Türknauf ließ sich geräuschlos drehen. Sie stürzte in den Raum dahinter und schloss die Tür. Es war stockdunkel.
Wie in einem Sarg.
Sie verscheuchte den Gedanken und legte ein Ohr an die Tür.
»Ich rufe Sie später zurück.« Anna Keane schien ein wenig außer Atem zu sein. Während sie an Kates Tür vorbeiging, wurden ihre Schritte immer schneller. »Ich habe einen Eilauftrag. Ich muss los.«
Kate hörte, wie sie die Ladebucht betrat. Die Hintertür fiel ins Schloss. Kate seufzte erleichtert auf. Es hatte nicht so geklungen, als hätte Anna Keane eine Alarmanlage eingeschaltet. Also musste sie nicht auf Bewegungsmelder gefasst sein.
Sie tastete an der Wand entlang, fand einen Lichtschalter und drückte darauf. An der Decke flackerten kühle Neonleuchten auf. Kate hob die Hand an den Mund.
Der Raum stand voller Särge. Lange, kurze, schwarze, braune, weiße, verzierte, schlichte.
Sie atmete tief durch. Nun, was hatte sie denn erwartet? Sie schnüffelte schließlich in einem Bestattungsinstitut herum.
Sei einfach froh, dass niemand in den Dingern drinliegt.
Das hier war offensichtlich ein Lagerraum.
Sie schaltete das Licht aus und öffnete die Tür. Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, dass niemand da war. Dann lief sie zum Ende des Ganges und lauschte.
Alles war still.
Zumindest auf dieser Etage. Ob sich noch jemand im Gebäude befand, konnte sie von hier aus nicht feststellen. Aber es war nach fünf Uhr. Sie hatte keine weiteren Autos auf dem Parkplatz gesehen. Wahrscheinlich war Anna Keane allein im Haus gewesen.
Wie lange Anna Keane brauchen würde, um den Toten abzuholen und herzubringen, war allerdings nicht vorherzusehen.
Sie eilte den nächsten Gang entlang. Zum zweiten Mal an diesem Tag löste ein Geruch bei ihr eine Erinnerung aus. Diese war schlimmer.
So hatte ihre Schwester gerochen, nachdem man sie in den Sarg gelegt hatte.
Formalin. Gemischt mit leichtem Verwesungsgeruch.
Kate blieb stehen. Es schnürte ihr die Kehle zu. Der Geruch kam aus einem Raum, dessen Tür offen stand. Sie ging langsam hinein. Der Raum war dunkel. Fensterlos.
Die Dunkelheit schloss sich um sie und brachte weitere Erinnerungen mit. An die Scham und die Verzweiflung, die sie als Teenager empfunden hatte. An ihre Ziellosigkeit, bevor sie endlich begriff, dass sich ihr Leben nie ändern würde, wenn sie sich nicht zusammenriss. An die
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