Im Blut vereint
weiteren Spuren ab. Die Assistentin drehte das Mädchen auf die Seite. Dann auf die andere Seite. Irgendetwas
musste
der Mörder doch an der Leiche hinterlassen haben.
Sie fanden nichts. Kein Sperma, kein Haar. Nichts. Ethan schüttelte den Kopf. Er konnte es nicht glauben. Was war das für ein Mörder? Keine Spuren am Fundort, keine an der Leiche. Ein Gefühl der Mutlosigkeit ergriff ihn.
»Also gut, schauen wir mal, ob in ihrem Haar irgendwas hängen geblieben ist«, sagte Dr. Guthro aufmunternd in die Stille hinein. Er griff nach einem kleinen schwarzen Kamm – er sah aus, als stammte er aus einem Ein-Dollar-Laden – und fuhr damit systematisch durch Lisas Haar. »Aha.« Vorsichtig entfernte er etwas mit einer Pinzette. Ethans Puls beschleunigte sich. Es war ein Faden, ungefähr einen Millimeter lang. »Das sieht vielversprechend aus.«
»Na bitte«, flüsterte Lamond.
Dr. Guthro legte den Faden in einen Beweisumschlag und vermerkte wieder Fall, Fundstelle und Datum.
Ethan wollte sich keine zu großen Hoffnungen machen. »Wir müssen erst Lisas Kleidung und ihre Wohnung ausschließen.« Er gestattete sich ein leichtes Lächeln. »Aber das könnte vom Tatort stammen.«
Der Gerichtsmediziner nickte. »Wir reichen es ans Labor weiter.« Lisas Haar lag nun sorgfältig gekämmt um ihren Kopf. Der Gerichtsmediziner zog mit der Pinzette ein Haar heraus und steckte es in einen weiteren Beweisumschlag.
Ethan blickte unverwandt auf Richterin Carsons Tochter. »Hat sie sich gegen den Mörder gewehrt?«
Dr. Guthro schüttelte langsam den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich sehe keinerlei Abwehrverletzungen. Keine Abschürfungen, keine Schnitte, kein verschmiertes Blut …«
Ethan runzelte die Stirn. Hatte sie den Angreifer gekannt? Oder war sie unter Drogen gesetzt worden? »Untersuchen Sie sie auf Sedativa und K.-o.-Tropfen?«
»Wir machen ein volles Screening«, sagte Dr. Guthro. »Aber Sie wissen so gut wie ich: Falls der Mörder ihr Ecstasy gegeben hat, wird das nicht mehr nachweisbar sein.« Ecstasy wurde häufig von Sexualtätern benutzt, um ihre Opfer gefügig zu machen, denn die Droge hielt sich nur etwa zwölf Stunden im Körper, und die Opfer konnten sich später oft an kaum etwas erinnern. »Jetzt machen wir erst einmal noch ein paar Abstriche.« Ethan schaute zu, wie Dr. Guthro mit Tupfern um Lisas Mund und um die freigelegten Arm- und Beingelenke strich. Er hoffte, dass sich in einem dieser Abstriche unter dem Mikroskop unsichtbare Spuren finden würden: Hautzellen, Sperma, Speichel. Irgendetwas.
Dr. Guthro nickte seiner Assistentin zu, und sie drehte die Leiche auf die Seite. »Totenflecke in der unteren Lendenregion und am Gesäß.«
»Was sind Totenflecke?«, flüsterte Lamond.
»Die Stellen, wo sich das Blut sammelt«, antwortete Ethan ungeduldig. Lamond sollte sich mal zusammenreißen und ein paar Handbücher lesen statt
Men’s Health.
Er war jetzt beim Morddezernat.
Dr. Guthro blickte Ethan an. »Sie wurde in Rückenlage gefunden?«
»Ja.« Ethan schaute Lisa an. Fünfzehn Jahre alt, Schülerin an einer Privatschule. Die Tochter von wohlhabenden, berufstätigen Eltern. Sie wohnte in einer exklusiven Eigentumswohnung. Unter der Haut zeichneten sich ihre Rückenwirbel ab. Sie sah so verletzlich aus. Er hätte am liebsten eine Decke um sie gelegt.
Stattdessen verschränkte er die Arme. Er musste objektiv bleiben. Er durfte sich von der Toten nicht aus der Fassung bringen lassen. Je länger er beim Morddezernat war, desto schwerer fiel es ihm aus irgendeinem Grund, Distanz zu wahren. Dabei hatte er gedacht, dass man mit der Zeit abstumpfte. Doch in ihm war nur der Wunsch nach Vergeltung immer stärker geworden.
Die Assistentin legte eine Hand um Lisas Taille und drehte sie wieder auf den Rücken. Sie nahm ein Maßband und wickelte es neben der Leiche ab. »99 cm«, verkündete sie munter. Dann las sie die Waage am Autopsietisch ab. »35,8 kg.«
Bis auf die Schreibgeräusche herrschte Stille. Niemand wollte aussprechen, was alle dachten: In Lisas Fall besagten diese Zahlen nicht viel.
Dr. Guthro schob einen Tupfer in den Mund des toten Mädchens. Ihr Kinn war nach unten gesackt, bevor die Totenstarre eingesetzt hatte. Ethan war erleichtert, dass sie die Totenstarre nicht brechen mussten. Das hatte er einmal in einem Beerdigungsinstitut tun müssen, um einem Opfer Fingerabdrücke abzunehmen, und er würde nie vergessen, wie jeder Knochen geknackt hatte, als er die geschlossene Hand geöffnet
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