Im Blut vereint
hatte er an der Tankstelle gekauft, bei der er auf dem Weg zur Arbeit vorbeikam. Er fuhr auf den Parkplatz gegenüber dem Polizeirevier und hielt. Es war ein perfekter Frühlingsmorgen. Die Luft war frisch, feucht und voller Verheißung. Ethan kurbelte das Fenster herunter und atmete tief ein. In der Ferne erstreckte sich das Hafenbecken von Halifax. Blau, glänzend, wunderschön.
Manche Dinge blieben sich gleich, trotz all der Toten und der Verderbtheit, mit der er tagtäglich zu tun hatte. Es tröstete ihn, dass er immer noch für Schönheit empfänglich war. Denn eines Tages, so fürchtete er, würde er auf den Hafen blicken und einfach Wasser sehen. Kaltes, schmutziges Wasser.
Er griff nach der Zeitung und warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Ihm blieb gerade genug Zeit, die Zeitung durchzublättern, bevor die Einsatzbesprechung begann.
Wie die Schlagzeilen aussahen, konnte er sich denken – das Telefon hatte gestern unaufhörlich geklingelt. Der sonst so zynische Kriminalreporter von der
Halifax Post
hatte ihn begeistert ausgefragt und ihm möglichst viele obszöne Einzelheiten über den Mord an dem Mädchen zu entlocken versucht.
Dennoch zuckte Ethan zusammen, als er die großen, fett gedruckten Buchstaben auf der Titelseite sah:
Tochter von Richterin zerstückelt
. Er dachte an Richterin Carson. Sie würde wütend sein. Aber auch verletzt? Oder insgeheim befriedigt?
Ihr gestriges Gespräch ließ ihm keine Ruhe. Sie war so zornig gewesen. Sie hatte kaum Trauer gezeigt. Das war nicht notwendigerweise ein Zeichen von Schuld; bei vielen Menschen wirkte Trauer lähmend, sodass man sie ihnen nicht anmerkte. Oft wuchs die Trauer dann innerlich langsam an, bis sie schließlich hervorbrach, wenn die Betroffenen am wenigsten darauf vorbereitet waren. Vielleicht würde Richterin Carson in fünf Monaten in irgendeinem Prozess Recht sprechen und plötzlich ein Schluchzen unterdrücken müssen, weil ihr Blick auf den rasierten Schädel eines Mitglieds der Hells Angels fiel. Der sich vielleicht eine Hundezeichnung auf den Kopf tätowiert hatte. Und sie deshalb unerwartet an ihr Kind erinnerte.
Trotzdem, Ethan hatte schon viele Angehörige von Mordopfern vernommen, und etwas an Richterin Carson war eigenartig.
Für tatverdächtig hatte er Hope Carson zunächst dennoch nicht gehalten. Doch dann hatte Marian MacAdam erwähnt, dass sie als Richterin am Supreme Court in der engeren Wahl war. Für jemanden vom Strafgericht wäre das ein großer Schritt nach vorn. Für den Supreme Court wurden Richter aufgrund ihres juristischen Scharfblicks und ihres Leumunds berufen. Beim ersten Kriterium konnte Richterin Carson die Konkurrenz vermutlich mühelos ausstechen, aber nach allem, was Marian MacAdam ihm über die familiäre Situation der Richterin erzählt hatte, schien das beim zweiten Kriterium keineswegs sicher. Würden eine drogenabhängige Tochter und ein hässlicher Sorgerechtsstreit mit der Schwiegermutter genügen, um sie aus dem Rennen zu werfen? Ethan konnte sich gut vorstellen, dass man eine Richterin mit solchen Problemen im Gepäck lieber nicht an den Supreme Court berief.
Was zu der Frage führte, wie weit Richterin Carson gehen würde, um ihre Ernennung nicht zu gefährden.
Glaubte man Mrs MacAdam, hatte Hope Carson bereits das Wohlergehen ihrer Tochter aufs Spiel gesetzt, indem sie Lisa aus Furcht vor einem Skandal nicht in eine Entzugsklinik geschickt hatte.
Aber würde sie ihre Tochter umbringen?
Und zerstückeln?
Die Leiche zu verstümmeln wäre allerdings die perfekte Methode, das Motiv zu verschleiern.
Andererseits war es schwer zu glauben, dass eine Mutter – noch dazu eine Strafrichterin – etwas derart Abscheuliches ihrem eigenen Fleisch und Blut zufügen würde.
Eben darum konnte sie es getan haben.
In Gedanken ging er noch einmal durch, was er von Carson erfahren hatte. Letztlich sehr wenig. Über die Zeit kurz vor Lisas Tod hatte sie nur vage Auskunft gegeben. Vor seinem inneren Auge tauchte ein Bild ihrer Hände auf. Es waren kräftige Hände. An einem Knöchel hatte sie eine kleine Schnittwunde gehabt.
Und Lamond hatte berichtet, dass Lisas Vater seit zwei Wochen in Übersee war und erst in zehn Tagen zurückkommen würde. Damit war er aus dem Spiel.
Ethan spülte seinen Muffin mit dem restlichen Kaffee hinunter und stieg aus dem Wagen.
Richterin Carson stand jetzt offiziell auf der Liste der Verdächtigen.
Er passierte die schweren Holztüren des Polizeireviers, öffnete
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