Im Blutkreis - Roman
den Gang versperrten, und sah sich die Karteikästen nacheinander genauer an.
1977… 1978… 1979.
Er versuchte, die letzte Schublade aufzuziehen. Versperrt. Er nahm seinen Dolch, schob ihn in den Spalt und zerbrach den Riegel.
Große schwarze Register, nach Monaten geordnet.
Er war Anfang 1979 hier aufgenommen worden. Mit dem Finger strich er über die Einbände, nahm das Buch vom Januar heraus und blätterte es durch. Es handelte sich nicht um Krankengeschichten, wie er gehofft hatte, sondern um Berichte über die Visiten, die der Chefpsychiater mit der Hand eingetragen hatte. Jede Seite entprach einem Patienten und war in dreißig Tage eingeteilt. Die Namen waren alphabetisch geordnet.
Er setzte sich auf eine Kiste, klemmte die Taschenlampe zwischen Hals und Schulter und öffnete das Register beim Buchstaben M… Malet … Minard … Kein Martel. Er nahm die nächsten Registerbände heraus. Februar, März… Nichts. Der Name Julien Martel tauchte nirgends auf.
Er hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden.
»Was ist das für eine Scheiße …«
Sollte Jeanne Murneau sich geirrt haben?
Er schickte sich an, die Bände zurückzustellen, als er plötzlich eine neue Idee hatte. Er nahm sie sich wieder vor und ging sie erneut durch. Sein Name musste drinstehen. Wenn nicht, dann, weil … Er griff mit zitternder Hand nach seiner Taschenlampe und näherte sie dem Buch, während sein Finger zugleich an der inneren Bindung zwischen Malet und Minard entlangfuhr …
Und diesmal sah er es.
In der weißen Fadenheftung zwischen den Seiten steckte ein Stückchen … ein winziges Stückchen Papier …
Die Seite war herausgerissen worden.
Man hatte die Dokumente, die ihn betrafen, verschwinden lassen.
Jemand hatte die Spuren seines Aufenthalts in der Klinik verwischt. Er richtete den Lichtkegel seiner Taschenlampe auf den unteren Rand der Seite und prüfte die Unterschrift des Arztes, die mit schwarzer Tinte auf das vergilbte Papier geschrieben worden war.
Prof. Pierre Casarès
Der Psychiater hatte also bereits damals hier gearbeitet. Er würde diesem Herrn gehörig auf den Zahn fühlen, und das nicht erst morgen. Er schloss die Schubladen, verließ unverzüglich das Archiv und kehrte ins Erdgeschoss zurück. Die Schatten der Bäume, die von einem wütenden Wind gepeitscht wurden, tanzten auf den Wänden wie ausgemergelte Gestalten. Alles schien ruhig. Geräuschlos ging er an der Mauer entlang zum Ausgang, als er plötzlich ein leises Geräusch hinter sich hörte. Reflexartig drehte er sich um. Er brauchte einen Augenblick, bis er die Umrisse der schmächtigen Gestalt erkannte, die im Spalt einer Tür aufgetaucht war. Sie ging mit kleinen Schritten in die Dunkelheit hinein. Es überlief ihn eiskalt.
Ein Kind …
Nathan machte ein paar Schritte auf den Ausgang zu, dann drehte er sich noch einmal zu dem Wesen um, das auf ihn zukam.
Wie gelähmt ließ Nathan das Kind so nahe an sich herankommen, dass er seine Gesichtszüge in der Nacht erkennen konnte. Es war ein kleiner braunhaariger Junge mit zartem Gesicht, dessen blasse Haut fast durchsichtig wirkte. Seine Hände waren mit dicken weißen Verbänden umwickelt, und seine Augen glänzten wie eine hell leuchtende Flamme. Nathan betrachtete einen Augenblick die großen, feuchten Augen, am liebsten hätte er ihn hochgehoben und in seine Arme genommen
… Aber als er eine Hand nach ihm ausstreckte, sah er, wie das Gesicht sich zu einer grauenhaften Fratze verzerrte und der kleine Mund sich zu einem lauten, fürchterlichen Schrei öffnete, der ihm tief ins Fleisch schnitt.
Nathan drehte sich auf dem Absatz um und ging in die Nacht hinaus. Es war Zeit, die Gespenster seiner Vergangenheit endlich abzuschütteln.
42
Nathan lief durch einen Abgrund aus Laub und Dunkelheit. Rascheln und der Geruch von Humus drangen mit dem Meeresdunst in Schwaden zu ihm heran. Er hatte seinen Wagen nahe der Straße versteckt und ging zu Fuß über den steinigen Pfad, der zum Besitz von Casarès führte.
Er wollte den Psychiater überraschen.
Wer hatte die Dokumente verschwinden lassen? Warum hatte man die Anwesenheit eines kaum zehnjährigen Jungen in einer psychiatrischen Klinik verheimlichen wollen?
Er sah jetzt das große Gebäude, das sich vor ihm im Mondlicht auf einem Hügel erhob.
Er ging näher heran.
Es war eine ehemalige mittelalterliche Festung, ein Wachposten, der das Tal und die dunklen Fluten des Mittelmeers überragte. Nathan blieb ein paar Meter entfernt
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