Im Blutkreis - Roman
ich fürchte, dass das in Abwesenheit des Professors nicht möglich ist.«
»Ich komme aus Paris, der Professor war informiert, sind Sie sicher, dass er keine Anweisung hinterlassen hat?«
»Leider nicht, er muss die Verabredung mit Ihnen vergessen haben… unter uns, er ist nicht mehr der Jüngste …« Der Psychiater sah Nathan einen Augenblick an, dann fragte er: »Was wollen Sie denn genau wissen?«
»Ich muss wissen, wie lange dieser Junge hier gewesen ist und wo er nach seinem Aufenthalt hier hingegangen ist …«
»Das sind vertrauliche Auskünfte … Ich bin mir bewusst, dass Sie von weither gekommen sind … aber wirklich, ohne Genehmigung kann ich Ihnen unmöglich Einsicht in die Akte dieses Patienten geben.«
Nathan schwieg, um seine Verärgerung zu zeigen.
»Alles, was ich Ihnen anbieten kann, ist, dass ich versuche, den Professor anzurufen. Er wohnt gleich dort oben, in der Domaine des Amandiers. Wenn er zu Hause ist, könnte er vielleicht herkommen.«
Clavel öffnete eine Schublade und holte ein kleines braunes Notizbuch heraus, in dem er blätterte.
»C… Casarès … Casarès … da ist es.«
Er nahm den Hörer ab und wählte, die Augen auf den Schreibtisch gerichtet.
»Anrufbeantworter«, sagte er und legte auf. »Er hat kein Handy.«
Der Arzt schien verstimmt. Nach kurzem Schweigen fragte er: »Sind Sie morgen noch da?«
»Das hatte ich eigentlich nicht vor«, sagte Nathan. »Aber wenn es nicht anders geht …«
»Rufen Sie um neun an, dann müsste er da sein, und wenn nicht, wird es mir wahrscheinlich gelungen sein, ihn zu erreichen.«
»Ausgezeichnet.«
»Ich begleite Sie.«
Als sie vor dem Haupteingang waren, sah Nathan, wie Clavels Hand sich zu den Tasten des Zahlencodes bewegte.
»Warum haben Sie so umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen getroffen?«
»Manche unserer jungen Patienten versuchen regelmäßig zu fliehen …«
Aber Nathan hörte nicht zu. Seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf die Leuchttasten, auf die der Psychiater drückte.
41
Die Nacht. Das Wehen des Windes über der Garrigue.
7-8-6-2-5-6-3.
An die Umfriedungsmauer gedrückt, tippte Nathan in aller Ruhe die Ziffernfolge, die die Türen zu seiner Vergangenheit entriegeln würde. Dieser Betonblock enthielt einen der Schlüssel zu dem Rätsel, das spürte er. Einen Augenblick später vernahm er ein Klicken, und die Tür öffnete sich.
Er rief sich rasch die Anordnung der Räumlichkeiten ins Gedächtnis zurück. Der Wachraum neben dem Eingang der menschenleeren Halle war das Haupthindernis. Er näherte sich geräuschlos, blieb stehen und warf einen Blick zu dem großen
Fenster. Eine Lampe brannte, der Wachraum war leer. Niemand vom Personal war zu sehen. Das bedeutete entweder, dass die Angestellte, die als Wache eingeteilt war, schlief oder dass sie sich irgendwo anders in dem Gebäude aufhielt.
Er bog nach rechts und ging durch den Gang, der von einer trüben Nachtbeleuchtung erhellt wurde, zu den Treppen, die nach oben und unten führten. Die Klinik, die ihm am Nachmittag steril vorgekommen war, wirkte jetzt düster und trist.
Wo bewahrten sie das Archiv auf?
Das Erdgeschoss war den Patienten vorbehalten, im ersten Stock lagen die Büros und vermutlich auch die Behandlungsräume und Sprechzimmer. Er entschied sich für den Keller.
Die Treppe am Ende des Korridors verschwand im Dunkeln. Nathan lauschte in die Stille. Niemand. Er ging ein paar Schritte weiter und stieg die Metallplatten hinunter, die als Stufen dienten, wobei er darauf achtete, sie nicht zum Vibrieren zu bringen.
Ein langer, dunkler Raum tauchte vor ihm auf. Er ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe über die gefliesten Wände wandern. Zu beiden Seiten des Gangs reihte sich Tür neben Tür. Nathan las die kleinen Schilder, die an jeder von ihnen angeschraubt waren. Auf den meisten stand noch immer »Untersuchungsraum« und die Nummern eins bis sechs. Er öffnete eine aufs Geratewohl, dann eine zweite. Fliesen, die Umrisse ausgemusterter medizinischer Instrumente… Sie waren leer, nicht mehr benutzt. Endlich fand er, was er suchte. Er schlüpfte hinein und schloss behutsam die Tür hinter sich.
Der Archivraum war riesig. Eine Hölle aus Papier, Kartons, verschnürten Paketen, die übereinander gestapelt waren. An den Wänden standen Reihen bronzefarbener Karteikästen aus Metall. Auf jede Schublade hatte man ein kleines Pappschild geklebt, das einem Jahr entsprach. Nathan räumte die Aktenstöße
beiseite, die
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