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Im Blutkreis - Roman

Im Blutkreis - Roman

Titel: Im Blutkreis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Limes
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unten stehen, verschaffte sich rasch einen Überblick und stürmte dann die Stufen hinauf, die ihn vom Haupteingang trennten. An der Ecke des Gebäudes bemerkte er eine Überwachungskamera.
    Nathan läutete. Keine Reaktion.
    Er drückte auf den Türgriff. Die Tür war nicht verschlossen.
    Seltsam.
    Instinktiv trat er zurück und schlich um das Haus herum, um
durch die schmalen Fenster in der Fassade ins Innere zu blicken.
    Mehrere Zimmer waren erleuchtet, alles war ruhig.
    Er kehrte zum Eingang zurück, zögerte kurz, schob dann die Tür auf und stand in einem großen, schlicht eingerichteten Raum mit alabasterfarbenen Wänden. Was ihm als Erstes auffiel, war die Sammlung von Werken zeitgenössischer Künstler an den Wänden: die Schwarzweißfotografie eines von einer Nadel durchbohrten Fingers, ein Plasmavideoschirm, der in einer Endlosschleife eine völlig entkräftete Frau zeigte, die auf einem Haufen Tiergerippe saß und besessen jeden Knochen säuberte. Die übrigen Werke waren gegenständliche und abstrakte Gemälde. In ihrer Gesamtheit bildeten sie ein Ensemble von eigenartiger Kraft. Ein Anbranden flüssiger und organischer Stoffe, die zugleich eine Tötung, eine Zurückweisung des Lebens und die Wiedergeburt, die Rückkehr in ein anderes ungestümes Leben beschwor, das zuckte wie ein warmes Herz, das gerade eben aus einer Brust herausgerissen worden war … In der Mitte des Raums standen sich zwei mit purpurrotem Filz überzogene Sofas gegenüber, getrennt durch einen Tisch aus Beton, auf dem eine Fotografie in einem Glasrahmen stand. Ein Paar, das durch den Wald ging … Casarès und seine Frau?
    Dieser Ort ähnelte so gar nicht dem Bild, das Nathan sich von dem Psychiater gemacht hatte. Was für ein Mann war er? Und vor allem, wo war er?
    Nathan machte die Runde durchs Haus, inspizierte das Arbeitszimmer, die Schlafzimmer und eine geräumige Bibliothek, in der Hunderte von Büchern standen. Niemand.
    Er musste der Wahrheit ins Auge sehen: Casarès hatte sich aus dem Staub gemacht. Der Alte steckte bis zum Hals in der Sache; nach Nathans Anruf hatte er die Koffer gepackt und das Weite gesucht.
    Wovor hatte er solche Angst?
    Nathan beschloss, erneut jedes Zimmer zu durchsuchen, jedes
Möbelstück unter die Lupe zu nehmen. Er würde zwangsläufig auf irgendetwas stoßen. Er begann im Arbeitszimmer, durchwühlte die Schubladen, leerte die Karteikästen, sah die Papiere durch. Auch in der Bibliothek nichts, er öffnete jedes Buch, schlitzte die Matratzen, die Sofas auf… Vergeblich. Eine halbe Stunde später stand er wieder im Wohnzimmer.
    Nicht der geringste Hinweis.
    Erneut wandte er sich der Kunstsammlung zu.
    Merkwürdige Skulpturen aus Filz oder geschmolzenem Bienenwachs von Joseph Beuys reihten sich in einer Vitrine aneinander. Die Gemälde … drei hingen dort. Ein Diptychon stellte eine Art Porzellanpuppe mit entkernten Augenhöhlen und allzu roten Wangen dar, deren Glieder durch Lederprothesen verbunden waren … Nathan dachte, dass dieser Mann sehr eigenartige Vorlieben hatte für jemanden, der sein Leben der Behandlung von Kindern gewidmet hatte.
    Das letzte Werk betrachtete er eingehender. Auf den ersten Blick wirkte es abstrakt. Flecken, Spritzer, dünne Striche, die, wenn man zurücktrat, plötzlich eine Tiergestalt hervortreten ließen.
    Plötzlich bekam die Zeichnung vor seinen Augen deutlichere Konturen…
    Der schmale Hals, der gekrümmte Schnabel. Ein Vogel.
    Das Bild war von dem Künstler überarbeitet worden, aber es handelte sich eindeutig um… einen Ibis … einen Ibis mit einem Kind in seiner Mitte.
    Es gab keinen Zweifel. Das war die gleiche Zeichnung wie auf Rhodas Reisetasche … das Monogramm von One Earth.
    Nathan spürte, wie ein heftiger Adrenalinstoß durch seinen Körper ging. Diesmal hatte er einen handfesten Beweis, dass die humanitäre Organisation in die Vorgänge verstrickt war. Vielleicht war das der Schlüssel, mit dessen Hilfe er die Ungeheuer aufspüren konnte.
    Er hatte genug gesehen und beschloss, nicht länger zu bleiben.
Er war auf dem Weg zum Ausgang, als er eine Tür bemerkte, die einen Spalt offen stand und durch die in Abständen Licht drang. Stufen führten in die unteren Räume des Hauses.
    Der Keller. Er hatte den Keller vergessen.
    Er ging die Treppe hinunter und gelangte in einen schmalen Gang, der von einer weiteren Tür verschlossen wurde. Nur eine Reihe flackernder Neonröhren erhellte den Ort und tauchte ihn in Abständen immer wieder in

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