Im Blutkreis - Roman
Wenn ich mit Ihnen zu tun hätte, ohne die Einzelheiten Ihrer Geschichte zu kennen, könnten Sie ebenso gut ein verstörter Regierungsvertreter sein wie ein gut organisierter Verbrecher, der versucht, sich der Justiz zu entziehen. Aber da gibt es eben noch den Kontext: die Polarexpedition; das Elias-Manuskript; die Killer, die im Krankenhaus auf Sie lauerten. Das alles macht jede Hypothese verdammt schwierig. Offen gesagt, ich habe keine Ahnung.«
»Und wie soll ich mich Ihrer Meinung nach verhalten?«
»Ändern Sie Ihre Pläne nicht. Fahren Sie nach Antwerpen, treffen Sie sich mit dem Chef von Hydra, versuchen Sie, so viele Informationen wie möglich über die Expedition, an der Sie teilgenommen haben, aus ihm herauszukitzeln. Sie müssen sehr vorsichtig sein. Sie haben nicht die geringste Ahnung, was Sie erwartet. Was mich betrifft, ich werde Sie nicht im Stich lassen. Wir bleiben in Kontakt. Ich werde Ihnen ein Handy geben und einen Laptop mit einem von mir entwickelten unknackbaren Verschüsselungssystem, so dass unsere E-Mails nicht abgefangen werden können. Ich lege keinen gesteigerten Wert darauf, dass jemand seine Nase in unsere Angelegenheiten steckt. Ich werde Ihnen die Transkription des Elias-Manuskripts portionsweise mailen, immer wenn ein weiterer Abschnitt fertig ist. Es könnte gut sein, dass es eine Rolle in dieser Geschichte spielt.«
»Ihr Vertrauen berührt mich, Ashley. Warum tun Sie das?«
Die Augen des Engländers leuchteten auf. »Sagen wir, ich liebe mein Leben in der Malatestiana, aber die Winter hier sind manchmal etwas lang.«
Sie verbrachten den Abend zusammen, und Nathan konnte sich zum ersten Mal, seit er aus dem Koma erwacht war, entspannen. Ein Restaurant in Cesena, in dem der Engländer Stammgast war, ein einfaches, aber köstliches Abendessen. Woods Unterstützung beruhigte Nathan, sie war für ihn ein Halt, ein Anstoß, den er brauchte, um wieder zu sich zu kommen. Die letzte Nacht, die er im Fürstenzimmer verbrachte, war friedlich. Lello legte letzte Hand an die Transkription der ersten Seiten des Manuskripts, er würde sie ihm am nächsten Morgen aushändigen.
Auch wenn seine Vergangenheit nach wie vor verschlossen blieb, sah Nathan doch einen schwachen Hoffnungsschimmer. Er musste jetzt in die geheime Welt eintauchen, die ihn umgab, jeden Hinweis, jedes Zeichen auf seinem Weg identifizieren und seine gegenwärtige Identität vernichten, um diejenige des Mannes wieder zum Leben zu erwecken, der er vor dem Unfall gewesen war.
Nathan töten, um dem anderen Platz zu machen.
11
Das Flugzeug nach Brüssel flog Punkt dreizehn Uhr vom Mailänder Flughafen Malpensa ab. Nathan öffnete sofort den Reißverschluss der Umhängetasche aus Nylon, holte den Laptop heraus, den Woods ihm mitgegeben hatte, und stellte ihn auf seine Ablageplatte. Er klappte den Bildschirm hoch und schaltete das Gerät ein, das sofort einen Zugangscode von ihm verlangte. Er tippte die sieben mit dem Engländer vereinbarten
Buchstaben: N-O-V-E-L-L-O, der Vorname des Fürsten von Cesena. Ein zweites Passwort war notwendig, um Zugang zu der Datei zu erhalten, die ihn interessierte: C-H-A-D-W-I-C-K. Einen Augenblick später erschien der Text. Das Elias-Manuskript würde seine ersten Geheimnisse preisgeben.
den 18. Mai des Jahres 1694
Ich möchte auf diesen Seiten von den Ereignissen berichten, deren Zeuge und trauriges Opfer ich wurde. Das Gesicht des jungen Mannes, welches meine ungeschickte Feder auf dem Vorsatzblatt dieses Tagebuchs skizziert hat, stellt niemand anderen als denjenigen dar, welcher ich war, Elias de Tanouarn, Edelmann aus Saint-Malo. Seitdem hat meine Seele die blinde Raserei vieler Stürme durchquert, und wenn das Toben der Winde mich auch noch immer am Rand der Steilküste festhält, gehöre ich doch der Vergangenheit an.
Im Jahre des Herrn sechzehnhundertdreiundneunzig riss mich in der Nacht des sechsundzwanzigsten November eine Reihe von Detonationen aus dem Schlaf. Ein Geschosshagel ging über meinem Haus in Puits de la Rivière nieder. Tausend Fenster zerbrachen mit gewaltigem Getöse, und meine liebe Stadt Saint-Malo-en-l’Île wurde bis in die Grundfesten ihrer Wälle erschüttert.
Ich verließ in aller Eile mein Bett, stürzte die Stufen hinunter und fand mich, nur notdürftig bekleidet, auf der Gasse wieder. Die Glocken läuteten Sturm, und die Explosionen gingen erneut und noch heftiger los und ergossen einen Hagel von Nägeln, Haken und Eisenketten über die
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