Im Blutkreis - Roman
Geruchlosigkeit. Hier war der Tod sauber, kein wimmelndes Ungeziefer, keine Verwesung. Der obere Teil des ersten Sacks, der aufgerissen war, ließ einen karminroten Brei aus Knochensplittern, leicht grauen Haaren und Hautfetzen erkennen. Er beugte sich darüber, um die entstellten Gesichtszüge genauer zu betrachten. Der Aasfresser hatte begonnen, das Gesicht des Toten zu fressen, und damit jede Identifizierung nach Augenschein unmöglich gemacht, aber die Haarfarbe passte nicht, das konnte nicht der Arzt sein. Er wandte sich jetzt den anderen Hüllen zu. Nach und nach gelang es ihm, sie mit bloßen Händen aus ihrer dicken Schotterschicht zu befreien, indem er mit seinen Fingernägeln Splitter um Splitter den Eismörtel wegkratzte, der jeden noch so kleinen Zwischenraum ausfüllte. Als er fertig
war, öffnete er den Reißverschluss des zweiten Sacks bis zum Anschlag. Langsam zog er die beiden Teile aus dunklem Leinen auseinander, das durch die Kälte ganz steif geworden war.
Sein Herz verkrampfte sich.
Zwei glasige Augen blickten ihn aus ihren schwarzen Höhlen durch eine durchsichtige Membrane an. Eine Plastikplane, die von einer dünnen Reifschicht bedeckt war, hüllte den Leichnam wie ein Leichentuch aus Diamanten ein. Dieser Tod sieht nicht wie Schlaf aus, dachte Nathan, während er sich vorbeugte, um das erstarrte Gesicht besser sehen zu können. Die Haare waren mit Eisperlen bedeckt, und die schwarzen Lippen, die sich in einem makabren Grinsen öffneten, entblößten das geschwollene Zahnfleisch, das noch schwärzer war und in dem gelbliche Zahnruinen steckten.
Irgendetwas stimmte nicht.
Die Haut hatte eine eigenartige Farbe. Sie wirkte uneben und welk wie altes Leder, fast mumifiziert. Nathan schlitzte das kalte Plastik mit seinen Fingern auf. Das Erste, was er entdeckte, war die Metallplatte mit der Abbildung des Reichsadlers, die an der khakifarbenen Wolljacke befestigt war … Er stürzte sich auf den dritten Sack und legte den Körper frei. Die gleiche Uniform, das gleiche erstarrte Gesicht, die gleichen verdorrten Hände, durchzogen von schwarzen Adern und Sehnen, die wie Seile hervortraten …
Soldaten.
Das waren deutsche Soldaten aus dem Krieg 1914–1918…
Nathan begriff überhaupt nichts mehr. Er richtete sich schwankend auf und untersuchte die Machart der Leichensäcke. Sie waren aus Nylon, es waren die der Pole Explorer , das stand außer Zweifel. Eine neue Idee ging ihm durch den Kopf. Die Hände… Er legte sie nacheinander frei und untersuchte eingehend die Finger der Toten. Der Mittelfinger der rechten Hand der zweiten Leiche war rohes Fleisch. Der Nagel … der Nagel, den er vom Boden der Kühlkammer der Pole Explorer
aufgehoben hatte, war weder dem Arzt noch den anderen abgerissen worden, sondern dieser Mumie …
Ein Teil des Geheimnisses lüftete sich.
Als die Taucher das Wrack nach den Kadmiumfässern abgesucht hatten, waren sie auf diese Leichen gestoßen. Aber warum hatten sie sie aus ihrem stählernen Grab geholt? Warum hatten sie beschlossen, sie hier, an diesem Strand zu beerdigen? Es fiel ihm schwer, klar zu denken, das alles ergab keinen Sinn. Nathan richtete sich auf und begann, die Verstorbenen zu beerdigen, als er plötzlich den langen und sauberen Einschnitt sah, der die Jacke eines der Soldaten durchzog.
Kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinunter.
Nathan kniete sich hin und näherte seine zitternden Hände dem Leichnam. Er hob jetzt die Fetzen nasser Wolle hoch und entblößte einen Brei aus schlaffem, bläulichem Fleisch und herausstehenden Knochen. Der Brustkorb des Toten war auf barbarische Weise von den Schlüsselbeinen bis zur Scham aufgeschnitten worden und öffnete sich auf einen organischen Schlund. Die Lungen waren herausgerissen worden. Von seinem Instinkt geleitet, nahm er den Kopf des Toten in beide Hände und drehte ihn in einem Geräusch von knackenden Wirbeln um… der Schädel war eingeschlagen worden, bis auf den Knochen abgekratzt, und das Gehirn war herausgenommen worden.
Diese Verstümmelungen … diese Verstümmelungen waren Punkt für Punkt identisch mit den im Elias-Manuskript geschilderten.
Die Verbindung, nach der er gesucht hatte, lag vor ihm, geschnitten ins Fleisch der Toten.
II
20
Flughafen Paris-Charles-de-Gaulle
27. März 2002
Acht Uhr abends
Nathan folgte dem Strom der Passagiere und versuchte, sich einen Weg zur Gepäckausgabe zu bahnen. Seit er Spitzbergen am Morgen verlassen hatte, hatte er sich bemüht, seine
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