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Im Blutkreis - Roman

Im Blutkreis - Roman

Titel: Im Blutkreis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Limes
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Welt gesetzt hatten.
    »Was ist das?«, fragte Nathan.
    »Barentsburg, eine russische Enklave. Eigentum der Bergwerksgesellschaft
Trust Arktikugol. Jahrelange Arbeit, die Stadt zu bauen. Den Beton, die Kräne von weither kommen lassen, dann die Fundamente graben. Sehr schwierig, die Fundamente für Hochhäuser zu machen, wegen Dauerfrost. So ist die Erde hier. Ganze Zeit gefroren, hart wie Stein, man muss Löcher mit Dynamit graben.«
    Er trank einen Schluck Tee.
    »Hier fördern nur Russen und Ukrainer Kohle. Neunhundert Männer, zwanzig Frauen. Hier ich lebte in meinem ersten Leben.«
    »Deinem ersten Leben?«
    »Ja. Ich nicht weit von Spitzbergen geboren, in Chabarowsk, am Fluss Amur. Vater Russe, Mutter Chinesin.«
    Mit einer Handbewegung deutete er auf seine Mandelaugen.
    »Mit zwanzig ich komme nach Barentsburg, Geld verdienen. Ich esse, ich schlafe, ich esse hier, zehn Jahre. Eines Tages, 19. September 1997, Bohrmaschine durchsticht Methanblase. Gibt Schlagwetterexplosion. Wir sind dreißig, vierzig Bergleute in der Tiefe, dreiundzwanzig sterben, kaput , aus. Am Tag danach ich steige mit Rettern in den Schacht, nach Leichen suchen. Ist letztes Mal, danach vorbei, ich gehe nie mehr hinunter. Meine Seele in Mine geblieben, begraben mit Kameraden.«
    »Und dein zweites Leben ist dieser Kutter?«
    »Ja, Stromoï ist ›Insel in der Strömung‹ auf Norwegisch, ich will nicht mehr Russisch sprechen. Ich lebe von Fischfang: Garnelen im Winter unter dem Eis, Sommer Seezungen.«
    Slawa schwieg kurz, bevor er weitersprach: »Du lebst wo, in Paris?«
    »Ja.«
    »Du hast Pariser Frau?«
    »Nein. Ich habe keine Frau.«
    »Ich auch nicht, hier ist besser Hund sein als Russe«, erklärte Slawa und verzog verächtlich die Lippen. »Gestern ich höre, dass du Journalist bist. Was suchst du im Schiff?«

    »Ich glaube, dass es umweltschädliche Stoffe transportiert hat.«
    »Glaubst du, dass sie das auf Insel deponieren?«
    Nathan antwortete ausweichend: »Das versuche ich herauszufinden.«
    »Warum du das tun?«
    »Ich will die Wahrheit herausfinden.«
    »Wahrheit, deswegen du kommst aus Frankreich hierher?«, fragte der Russe ungläubig.
    »Ja«, log Nathan ein weiteres Mal.
    »Komisch«, sagte Slawa.
    »Was ist komisch?«
    »Du komischer Kerl, man könnte meinen, du auch ein bisschen … Stromoï . Da, schau«, erklärte er und deutete mit seinem Finger auf eine kleine, felsige Insel, die aus dem Nebel auftauchte. »Da, auf Insel, ich Männer von Eisbrecher gesehen.«
    Sie näherten sich.
    Die Ruinen von Horstland waren von Hügeln umgeben, die mit einem dicken Grasteppich bedeckt waren. Kein einziger Baum, nicht die geringste Spur einer Vegetation, die größer als ein Strauch war, aber der Wind, der blies, schien der Erde Leben einzuhauchen, indem er die Oberfläche in große, zitternde, grüne Wellen verwandelte. Die verlassene Stadt tauchte hinter einer Felsspitze auf, geschmiegt in eine kleine Bucht, deren Kiesel mit schmutzigem Schnee, Schrott und riesigen Kupferkesseln, in denen einst das Walfett gekocht worden war, bedeckt waren. Noch weiter entfernt, am anderen Ende der Bucht, lagen Schiffswracks, die an große Skelette gestrandeter Leviathane erinnerten.
    »Holländer … Basken … Tausende Männer kommen hierher im achtzehnten Jahrhundert. Als Walfang in der Arktis wütet. Sie zerstückeln Beute. Das Meer ist blutrot …«
    Als sie in Sichtweite der Hafenmole waren, zog Slawa eine orangefarbene Öljacke an und erklärte: »Man kann wegen Untiefen
nicht näher heran. Ich bring dich mit Beiboot hin. Du führst Ruder und bleibst vor dem Wind. Ich Anker werfen. Keine heftige Bewegung!«
    Nathan gehorchte, aber er sah die Welt um sich herum schon nicht mehr. Während sie sich der Küste näherten, hatte sein Geist sich plötzlich verschlossen, als sei ihm eben klar geworden, was er gleich entdecken würde. Aber schon am Abend zuvor hatte er aus den Worten des Fischers den Grund für das Anlegen des Eisbrechers herausgehört. Die Tür der Brücke schlug im Wind, der aufkam, und ließ den Geruch der Erde hereindringen. Diesmal war es nicht mehr die Süße des Frühlings, des erwachenden Lebens, sondern ein beißender Gestank, wie von Fleisch, das im Humus verwest. Der Geruch des Todes.
     
    Sie durchschnitten die Fluten in dem Boot, das von Slawas kräftigen Ruderschlägen vorwärts getrieben wurde. Nachdem sie an der Spitze vorbei waren, suchten sie sich einen Weg zwischen großen Felsen, die mit Vogelkot bedeckt

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