Im Blutkreis - Roman
eigenen Teile in das verwirrende Puzzle einzufügen. Die Bilder vom Strand von Horstland ließen ihn nicht los. Nachdem die erste Bestürzung über seine Entdeckung sich gelegt hatte, hatte er ganz nüchtern die Leichen untersucht und inmitten des Breis der Eingeweide herauszufinden versucht, mit welchen Techniken die Organe entnommen worden waren. Anschließend hatte er mit seiner Digitalkamera Aufnahmen von den Leichen gemacht. Die Schrammen an den Knochen der Schädel und Brustkörbe wiesen darauf hin, dass sie durchgesägt worden waren. Um die weichen Gewebe – Haut, Gehirne, Lungen – durchzuschneiden und zu entnehmen, war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Skalpell benutzt worden. Eines war sicher: Das war die Arbeit von Profis.
Das Wrack hatte niemals Kadmiumoxyd transportiert, die Männer von Hydra waren wegen dieser Leichen da gewesen. Nathan hatte die wahre Mission der Pole Explorer herausgefunden, er war hinter Roubauds Geheimnis gekommen, aber der Schleier war noch lange nicht gelüftet.
Der Albtraum nahm Gestalt an. Gesichtslose Mörder durchquerten die Zeit und begingen völlig ungestraft ihre Verbrechen. Aber was war ihr Motiv, was war der tiefere Sinn dieser
Verstümmelungen? Er musste dringend mit Woods sprechen. Die Fortsetzung der Transkription des Manuskripts würde ihn mit Sicherheit weiterbringen und erlauben, neue Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen.
Er blickte auf die hängenden Monitore und ging zu der Halle, wo sich die Gepäckausgabe für die Flüge aus Wien, Malta und Oslo befand. Die Menge hatte sich bereits um die Gepäckbänder verteilt. Nathan schaltete sein Handy ein und wählte die Nummer der Malatestiana.
Es klingelte zweimal, dann meldete sich eine Stimme.
»Ashley …«
»Nathan! Wo zum Teufel haben Sie gesteckt?«
»Ich bin gerade in Paris gelandet. Ich bin viel unterwegs gewesen.«
»Und was haben Sie herausgefunden?«
»Eine Menge.«
»Das heißt?«
»Hören Sie, ich bin noch am Flughafen, es ist ziemlicher Betrieb hier, ich rufe Sie wieder von zu Hause an.«
»Von zu Hause? Vergessen Sie nicht, dass man Sie sucht.«
»Nun, das erspart mir, sie zu suchen.«
»Seien Sie trotzdem vorsichtig.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Sagen Sie… sind Sie mit der Transkription weitergekommen?«
»Ja, ich hab nur gewartet, bis ich was von Ihnen höre, um sie Ihnen zu mailen.«
»Und was steht drin?«
»Der Text ist in sehr schlechtem Zustand, und es ist mir nicht gelungen, die Passagen, die ich bearbeitet habe, zur Gänze zu transkribieren. Den Bruchstücken habe ich jedoch entnehmen können, dass Roch mit Hilfe der Verbindungen seines Vaters, der Reeder ist, die Spur des Afrikaners zurückverfolgt hat, und zwar dank des Brandmals auf der Schulter. Es handelt sich um einen Sklaven mit Namen Barrack. Dieser Typ ist seinem Herrn
weggelaufen und von Nantes nach Saint-Malo gereist, wobei er dank seiner Zauberkräfte überlebt hat …«
»Ein Hexer?«
»Genau. Die Hypothese unserer Ärzte, der zufolge dieser Mann nicht an Bord des Höllenschiffs war, scheint sich zu bestätigen. Er hat nichts mit den Engländern zu tun, wahrscheinlicher ist vielmehr, dass er von seinem Mörder kurz vor oder direkt nach dem Angriff dort hingelegt wurde, um ihn zwischen den anderen Leichen verschwinden zu lassen. Und Elias behauptet, er habe an den Knien so etwas wie knöcherne Auswüchse entdeckt und seziert. Nach ihm ist diese Anomalie die Folge einer längeren Gefangenschaft. Der Sklave könnte mehrere Monate in einem winzigen Käfig eingesperrt gewesen sein. Diese Hinweise haben sie zu einem gewissen Aleister Ewen geführt, einem Schotten, genannt ›der Prüfer‹. Er ist ein Hexenjäger. Unsere Ärzte haben vor, ihn aufzusuchen. Der Rest des Textes ist ganz klar und sehr interessant.«
»Können Sie mir heute Abend etwas schicken?«
»Ich werde mich sofort darum kümmern.«
»Ausgezeichnet, bis später, Ashley.«
Um zwanzig Uhr dreißig setzte sich das Rollband in Bewegung. Nathan mischte sich unter die anderen Reisenden und beobachtete das Vorbeiziehen der ersten Koffer. Er hatte es eilig, nach Hause zu kommen, um die Fortsetzung des Manuskripts zu lesen. Schon bald erkannte er seine Reisetasche. Als er sich vorbeugte, um nach ihr zu greifen, spürte er einen stechenden Schmerz im Nacken, wie von einer Nadel, und er geriet ins Taumeln. Er hielt sich am Arm eines Unbekannten fest.
»Ist Ihnen nicht gut, Monsieur?«
»Doch… nur ein leichtes
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