Im Bus ganz hinten
Der sollte mich mal richtig durchchecken. Herausfinden, warum mein Verhalten immer so seltsam war, und mich sozusagen »gymnasium-ready« machen. Nachdem ich in der Praxis haufenweise Tests und lästige Fragen über mich hatte ergehen lassen, war die Diagnose eindeutig: ADHS–Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Und damit hatte sich der Verdacht meiner Mutter bestätigt: Ich war tatsächlich psycho! Nun ja, zumindest war ich nicht ganz normal. Die Ärzte verschrieben mir Ritalin, was ein krasses Aufputschmittel ist, das bei hyperaktiven Kids angeblich genau umgekehrt wirkt. Es sollte mich beruhigen. Als ich mir allerdings zu Hause den Beipackzettel durchlas, wurde mir ziemlich schwindelig. Die darin aufgeführte Liste der Nebenwirkungen konnte sich sehen lassen:
Müdigkeit
Übelkeit
Appetitlosigkeit
Blutdruckstörungen
Schwindel
Erschöpfung
Depressionen
Ängste
Verdauungsstörungen
Wachstumsverzögerungen
Schlaflosigkeit
Konzentrationsstörungen
Ticks
Aggressionen
Verändertes Empfinden
Veränderte Wahrnehmung
Magenbeschwerden
Reizbarkeit
Verschwommenes Sehen Mittlerweile haben sie übrigens herausgefunden, dass Ritalin das Verhalten von hyperaktiven Kindern sogar noch verschlechtert. So viel dazu.
Aber ich nahm das Zeug von nun an täglich – meiner Mutter zuliebe. Sie redete sich ein, dass ich nur so Chancen auf das Gymnasium hätte, und meldete mich an der Schule ihrer Träume an. Und ich bekam sogar einen Platz! Mit Biegen und Brechen, aber trotzdem: Ab der fünften Klasse sollte ich nun ein stolzer Gymnasiast sein. Na ja, zumindest meine Mutter war stolz, und ich tat, was ich konnte, damit sie glücklich war. Vollgepumpt mit meinen legalen Drogen, klappte das mit der Konzentration irgendwann sogar tatsächlich besser. Ich war weniger unruhig und nahm total ab, ich überlegte schon, ob man die kleinen Pillen vielleicht an Weight Watchers weiterempfehlen sollte. Tatsächlich war mir allerdings weniger zum Scherzen zumute. Ich hatte das Gefühl, dass ich auf Ritalin irgendwie nicht mehr ich selbst war, und ich war mir nicht sicher, was längerfristig mit mir passieren würde.
Tanz der Teufel
Es dauerte nicht lange, bis ich es herausfand. In den Sommerferien beschlossen mein Arzt und meine Mutter, dass ich das Medikament absetzen sollte. Schließlich musste ich ja nicht für die Schule lernen – und Ritalin war ganz schön teuer. Leider war ich mittlerweile so dermaßen an das Zeug gewöhnt, dass ich ohne meine tägliche Dosis total durcheinandergeriet. Einfach so, von heute auf morgen, damit aufzuhören war ziemlich fahrlässig. Ich lief kopflos durch die Straßen und fühlte auf einmal eine dröhnende Leere in mir. Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich mit mir anfangen sollte, so ganz allein mit mir selbst – ohne Ritalin. All meine Freunde waren irgendwohin in den Urlaub geflogen, während ich meine Ferien im Getto verbringen musste. Der einzige Junge aus der Siedlung, der auch zu Hause geblieben war, war Marco. Also hing ich eben mit dem ab, obwohl ich sonst nicht viel mit ihm zu tun hatte. Er war ein Jahr älter als ich, das fand ich zumindest cool. Er merkte schnell, dass ich ein nachdenklicher, sensibler Typ war, also erzählte er mir ständig Märchen und Gruselstorys. Das faszinierte mich irgendwie. Eines Tages kam er mich besuchen – und hatte diverse Horrorfilme im Gepäck: Freitag, der 13.
und Tanz der Teufel . Ziemlich harter Stoff für einen Zwölfjährigen. Ich hatte eigentlich auch gar keinen Bock auf so was, ich stand vielmehr auf Rambo, Rocky oder Robocop. Aber Marco ließ nicht locker, also schauten wir seine Filme. Und es war schlimmer, als ich erwartet hatte:
das blanke Grauen! Ich hatte Todesangst. In dieser Nacht pennte Marco bei mir – auf dem Boden vor meinem Bett. Wir schliefen beide tief und fest, bis ich plötzlich um drei Uhr morgens aufschreckte. Mein Bett war total nass geschwitzt. Mein Herz klopfte wie ein Techno-Track:
mindestens 200 bpm. Ich fühlte mich wie auf Drogen. Es war der reinste Horrortrip. Ich war mir sicher: Jetzt kommt mich der Teufel holen!
In heller Panik lief ich zu meiner Mutter ins Schlafzimmer und rüttelte sie wach. Angstschweiß perlte von meiner Stirn. Meine Augen waren weit aufgerissen, und ich war mir sicher, ganz ehrlich und aus tiefster Überzeugung sicher, dass das Böse von mir Besitz ergriffen hatte. Ich sprang vor ihrem Bett herum und schrie wie am Spieß: »Mama, der Teufel ist da! Er ist gekommen, um
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