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Im Café der moeglichen Traeume

Im Café der moeglichen Traeume

Titel: Im Café der moeglichen Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paola Calvetti
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zu sprechen. Bringst du dich hingegen um, bist du ein Verzweifelter. Der Selbstmord eines jungen Menschen hat den Ruch des Irrationalen, flößt den überzeugtesten Gläubigen Zweifel ein und erklärt das Leben der Eltern für nichtig.
    Jahrelang – und vielleicht sogar heute noch – hatte die Angst für Diego den Geruch seiner Mutter, diesen Geruch, den er immer wahrnahm, wenn er mit den Wünschen eines hilflosen Kindes ihre Nähe suchte: das Aufgabenheft abzeichnen, gute Nacht sagen, die Schuhe zubinden (bis sie ihm welche mit Schnalle kaufte, weil er die auch alleine anziehen und sie so jeden Kontakt mit diesem zuwendungsbedürftigen Sohn abwehren konnte). Einmal hatte er auch mitbekommen, wie sie sich, die Miene zu Munchs »Schrei« verzerrt, die Frage stellte, wie man das nur den Verwandten erklären solle. Das Schicksal hatte das schlimmste Urteil über sie gesprochen, und sie sorgte sich um die Reaktion der Leute!
    Angesichts dieses stumpfen Wahnsinns verfiel sein Vater in Schweigen.
    Diego hingegen hatte sofort etliche Fragen: Was hatten seine Augen gesehen, als er hinabfiel? Was war sein letzter bewusster Gedanke gewesen? Wie hatte das geschlagen, von dem man behauptete, es sei intakt geblieben – sein Herz? Außerdem hätte er ihm gerne die Frage gestellt, die er ihm immer schon stellen wollte: Was hatte er gedacht, als er sich zum ersten Mal über die Wiege gebeugt und sein neugeborenes Brüderchen gesehen hatte?
    Ein dumpfer Schlag.
    Er hatte ihn nicht gehört, weil seine Ohren durch das Fieber verstopft waren. Erst Jahre später hatte er im Internet gelesen, dass der Aufprall eines Menschen auf einer festen Oberfläche nicht zum sofortigen Tod führt, sondern zu Blutungen, weil die gebrochenen Knochen die Arterien, Venen und Organe aufschlitzen. Dass außerdem die starke Kompression die Muskelfasern reißen lässt, wodurch eine abnorme Menge an Elektrolyten, wie Kalium und Kalzium, und an Proteinen, wie Myoglobin, ins Blut gerät … Niemand hatte ihm aber je erklären können, ob der Betreffende leidet oder das alles mitbekommt. Niemand hat Antworten auf die Fragen, die sich die Hinterbliebenen stellen.
    Die Eltern, die gleich landen würden, hatten sich mit einem herkömmlichen Schädelhirntrauma zufriedengegeben: »Der Junge war nicht bei Bewusstsein und ist nach wenigen Minuten gestorben.«
    Das beschädigte Encephalon ist wegen der plötzlichen Tempodrosselung gegen das Innere der Hirnschale geknallt, die Wirbelsäule ist gebrochen. Knochen, Haut und mit Blut vermischte Hirnmasse, die sich an der Aufprallstelle hätten verteilen können, sind an ihrem Platz geblieben.
    Glücklicher Bruder, du hättest für den Rest deines Lebens ans Bett gefesselt sein können.
    Man brachte ihn weg. An jenem Tag gab es kein Mittagessen. Andrea gab es nicht mehr. Diego wurde zum Spielen zu einer Nachbarin geschickt, die eine Tochter in seinem Alter hatte. Am Nachmittag kehrten seine Eltern dann aus dem Krankenhaus zurück.
    Er bestand darauf, ihn zu sehen.
    Er schrie und protestierte und schlug mit den Fäusten um sich, bis die Knöchel bluteten. Das Theater war erfolgreich, zumal er spürte – wie nur Kinder etwas zu spüren vermögen, unbewusst, instinktiv –, dass er zu etwas Kostbarem geworden war, auf das man gut aufpassen musste.
    Er war nun ein Einzelkind und hatte die volle Absicht, Kapital daraus zu schlagen. Kinder lässt man Tote nicht anschauen, lautete der Rat der feigen Erwachsenen.
    Sie wussten nicht, dass es ein grandioser Moment sein kann.
    Er war es.
    Aus der Nähe können Tote wunderschön sein. Den Wunsch, eine Leiche zu sehen, hegte er, seit ihn Andrea ins Museum mitgenommen und ihm die Schildchen mit den Daten und Namen der Maler vorgelesen hatte. Eines der Bilder hatte ihn zu der Überzeugung gebracht, dass der Tod etwas Freundliches sei. Am hingestreckten Jesus hatten ihm die bleichen Formen gefallen, die lebensechten Muskeln und die eingefallenen Wangen, die an das Skelett im Wissenschaftsmuseum erinnerten. Im Fernsehen werden Leichen immer von netten Ärzten aus Stahlschubladen gezogen, als würde man einen Kuchen aus dem Ofen holen. Auf dem Bild war der Tod ganz anders, friedlich.
    Diego hatte darauf bestanden, und sie hatten ihn mitgenommen.
    Andrea ist da unten, sagte sein Vater mit seiner kranken Stimme. Einer Stimme, die an Krücken ging.
    Â»Unten«

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