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Im Café der moeglichen Traeume

Im Café der moeglichen Traeume

Titel: Im Café der moeglichen Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paola Calvetti
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– WIE VIELEN , Bruder? – Stundenkilometern. Eine logische Anwendung der Gravitationsgesetze. Wer von oben herabfällt, spürt sein Gewicht nicht und auch nicht die Schwerkraft; die Beschleunigung des Körpers auf dem Weg nach unten hebt sie auf und sieht keine Interferenzen vor.
    Die Geschwindigkeit dieses Körpers hing von seiner Form ab – Beine, Arme, Oberkörper und diese Locken voller Gedanken –, seinem Gewicht (fünfundsiebzig Kilo, vermutete Diego) und dem Luftwiderstand.
    Ganz sicher nicht vom Schmerz.
    Den er in Andreas Augen nie gesehen hatte.
    Mit diesem Körper gingen Atome zu Bruch. Atome von Bedürfnissen und Ängsten.
    Jedes Atom seines musikalischen Bruders übte eine Anziehungskraft auf die anderen Atome seines Körpers aus. Atome, dann Moleküle, dann Substanzen und Gefühlsklumpen. Vielleicht waren sie schlecht geworden.
    Der Engel in der Astronautenuniform hat dir seinen Fallschirm angeboten, aber du hast ihn nicht angenommen, Andrea.
    Diego durfte nicht mehr mit den kleinen Plastikastronauten spielen, die im Regal standen. Die Mutter hatte das Zimmer noch am selben Abend abgeschlossen. Nur sie hatte Zugang dazu und betrat es auf leisen Sohlen wie eine Katze, die ihren Korb sucht. Andreas Bett war immer gemacht. Die Mama stopfte jeden Tag die sauberen, nach Lavendel duftenden Bettlaken über dem Nichts fest. Obsessiv befreite sie Andreas Habseligkeiten von Staubmolekülen, die sich aber in einer konstanten, konvulsiven Bewegung stets von Neuem darauf absetzten wegen der elektromagnetischen Kraft, der nicht einmal das elendigste Elend Einhalt zu gebieten vermochte. Der Staub wirbelte in einem Sonnenstrahl, und das Kind Diego hätte seine Mutter gerne eines Besseren belehrt, hätte ihr gerne erklärt, dass sie mit ihrem Lappen nichts bewirkte, weil die elektrostatische Ladung dieser wirbelnden Partikel hartnäckig an jeder beliebigen Oberfläche hängen bleiben würde.
    Und an jedem Herz.
    Und dass sie sich nur neu verteilten – Staub zu Staub –, was nicht nur ein Zauberwort der Bibel war, sondern auch ein physikalisches Gesetz.
    Er sagte nichts, weil die Mama so schön war, wenn sie Andreas Gedenkzimmer betrat und ihre Inszenierung begann. Einmal hatte er sie dabei beobachtet, wie sie den Kopf an die Wand lehnte und ein verlorenes Gesicht machte wie eine verliebte Frau. Irgendeine beliebige Frau, die soeben von einer Reise zurückgekehrt zu sein schien. Sie fühlte sich nicht beobachtet, als sie vor einem Poster von Patti Smith vergilbte Zeitschriften und Partituren aufstapelte und über den Cellokasten strich und sich auf den Flokati in Kuhform legte, um auf einem alten Plattenspieler die Vierte von Brahms zu hören. Als das Blau des Himmels das einzige Licht war, das durch die Fenster fiel, die sie jede Woche putzte, jeden Donnerstag, setzte sie sich aufs Bett und las noch einmal all die Artikel. Die Nachbarn, die man interviewt hatte, beschrieben sie als eine nette Familie. Die Reporter, die sich für Zufälle begeisterten, schrieben über den möglichen Nachahmungseffekt. Insofern es um Andrea ging, befragten sie Seelenklempner, Psychologen, die sich auf Stressfaktoren im Jugendalter spezialisiert hatten, und auch Musiker, die ihren Erfolg und ihre Bekanntheit angeblich ihrer Depression verdankten.
    Sie schrieben auch: »verrenkte Marionette«, »verzerrte Gesichtszüge«, »leblose Puppe«, »Blut, das aus dem Schädel geschossen kam wie aus einem Wasserhahn«.
    Â»Leblosigkeit.«
    Es war die Zeit, als man vorschnell von einer »Selbstmordserie unter Jugendlichen« sprach. Andrea war der Sechzehnte von denen, die sich innerhalb weniger Monate auf die unterschiedlichste Weise das Leben genommen hatten – wegen einer vollkommen bedeutungslosen Koinzidenz, bedachte man, dass sie sowohl aus dem Süden als auch aus dem Norden kamen, sowohl aus reichen als auch aus armen Familien stammten und sich sowohl als arbeitswütige Streber als auch als notorische Sitzenbleiber hervorgetan hatten. Für die Statistik war Andrea eine Person, die sich angstbeladen durchs Leben geschleppt hatte. Angst vor praktisch allem.
    Zuhause, Schule, Militär, Brücken, Überführungen.
    Es ist allzu leicht, die Entscheidung zu treffen, sich ins Leere zu stürzen, denn der Tod lauert hinter jeder Ecke. Wenn jemand mit siebzehn bei einem Verkehrsunfall stirbt, beeilt man sich, von Schicksal

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