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Im Café der moeglichen Traeume

Im Café der moeglichen Traeume

Titel: Im Café der moeglichen Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paola Calvetti
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aber wir tun unser Möglichstes, um ihn abzulenken.«
    Vielleicht sind sie tatsächlich ruhigen Gewissens eingeschlafen nach diesem Gerede.
    Diego hatte sich die besondere Fähigkeit angeeignet, mitten unter Menschen alleine zu sein, so wie dort am Flughafen, wo er zusah, wie sein Nachbar auf dem Folterstuhl langsam erwachte. Oben, zwischen den massigen Haufenwolken, bildete sich derweil ein unsichtbarer Luftstrom und lenkte die Boeing mit den Eltern darin in Richtung Erde, in die Arme des Sohns. Es war fast schon Nachmittag, wie die Displays an den Rückenlehnen anzeigten, Reihe 28 D und F.
    Die Boeing 747 zögerte die Landung weiter hinaus, als müsste sie noch einmal darüber nachdenken.
    Wie du, Andrea. Als du, bereits im Flur, lautlos die Tür hinter dir geschlossen hast und zum Fenster im Zimmer zum Hof gegangen bist.
    An jenem Morgen wäre es klarerweise besser gewesen, noch einmal darüber nachzudenken. Es schneite, Flocken wie Perlen im Rosenkranz, Moleküle aus Weiß, gefrorene Spiegel, die das Licht reflektierten, Wattebäusche, die am Boden zerschellten und sich auflösten und ihr falsches Ewigkeitsversprechen brachen. An jenem Morgen hatte Andrea nur darauf gewartet, dass seine Mutter einkaufen gehen würde, denn der Vater war in der Kanzlei und der kleine Bruder hatte Fieber und war dem Kindermädchen anvertraut worden.
    In diesem Moment hätte er sagen müssen: »Es reicht.« Wie viele Sekunden hätte es gebraucht, um sich zu weigern, ein schlechtes Stück zu spielen?
    Von der Fenstertür des Zimmers, das steil zur kleinen Gemeinschaftswelt des Hauses abfiel, würde der Tod unweigerlich eintreten. Sofort oder doch fast. »Andrea war ein so freundlicher Junge, er hatte immer gute Noten und eine angeborene Begabung für die Musik«, kauten sie ihre Selbstabsolution wider, als hätte seine Begabung etwas mit der Sache zu tun. Es gibt viele begabte Leute, die sich auf die verrückteste Weise umbringen. Diese englische Schriftstellerin zum Beispiel, die sich mit einer Tasche voller Steine versenkt hat. Begabung hat überhaupt nichts mit der Sache zu tun, und auch nicht die guten Noten.
    Andrea behandelte sein Cello wie ein menschliches Wesen. Er nannte es Joe, und ihm, Diego – der Mikrobe, dem Pilz, manchmal auch dem Hamster –, war es nicht erlaubt, es anzufassen. Von seinem Bruder ließ er sich jeden Spitznamen gefallen. Diego, dieser kleine Tollpatsch mit den strubbeligen Haaren, der glücklich war, überhaupt beachtet zu werden, setzte sich auf den Boden und betrachtete die großen Hände, die sanft über die Saiten glitten, oder klammerte sich an seine Knöchel oder verknotete seine Schnürsenkel. Andrea tat, als würde er nichts merken, um dann nach dem Üben wie ein Verrückter zu stolpern und sich lachend die Schuhe vom Fuß zu reißen, mitsamt Socken.
    Andrea brachte ihm Schachspielen bei und verpetzte ihn nie.
    Komm zurück, Bruder. Bleibe bei mir.
    Sein Lachen war kristallklar. Das war sicher nicht das Lachen eines Menschen, der alles hinter sich lassen wollte, seine Familie, die Wohnung, geschweige denn die Musik. Von Problemen in der Familie war Diego nichts bekannt. Er war der Zwerg – »Sei ruhig, Zwerg, und hör mir zu«, sagte Andrea, wenn er sich als Chef aufspielte – und Andrea ein echter großer Bruder, geheimnisvoll und freundlich. Diego konnte sich beim besten Willen nicht an Schreie, Streitereien oder Rebellionen erinnern. Die anderen flüchteten sich in das Wort »Depression«, aber das war nur eine begriffliche Abkürzung. Klinisch Depressive sind appetitlos, und Andrea aß unglaubliche Mengen. Wenn die Eltern abends schliefen, machten sie es sich in der Küche gemütlich und aßen löffelweise Nutella. Einer, der Schokolade verschlingt und mit derselben räuberischen Gier ein Instrument spielt, kann nicht so anfällig sein wie jemand, der stundenlang Bach-Suiten übt, und auch nicht so verzweifelt wie ein beliebiges Stück von Mahler – der tatsächlich die besten Gründe hatte, depressiv zu sein, da sein Bruder gestorben war und dann auch noch seine kleine Tochter Maria Anna.
    Ein magischer Moment des Herausfallens aus allen Zusammenhängen, das scheinbare Gewicht, das Gefühl, wie ein Astronaut zu taumeln und nicht mehr zwischen oben und unten unterscheiden zu können, die Kraft des Aufpralls des menschlichen Geschosses mit

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