Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
Vom Netzwerk:
Mocellini. Aber wozu? Ich würde nichts über Louki herausfinden, was ich nicht bereits wüsste oder erraten hätte. Sind wir denn verantwortlich für die Statisten, die wir uns nicht ausgesucht haben und denen wir am Beginn unseres Lebens über den Weg laufen? Bin ich verantwortlich für meinen Vater und für all die Schatten, mit denen er in Hotelhallen oder Hinterzimmern von Cafés herumtuschelte und die Koffer trugen, deren Inhalt mir immer unbekannt bleiben wird? An jenem Abend, nach der unangenehmen Begegnung, gingen wir den Boulevard Saint-Germain entlang. Als wir die Buchhandlung Véga betraten, wirkte sie erleichtert. Sie hatte eine Liste mit Büchern dabei, die Guy de Vere ihr empfohlen hatte. Diese Liste besitze ich noch. Er gab sie jedem, der seinen Treffen beiwohnte. »Sie müssen nicht alles auf einmal lesen«, sagte er für gewöhnlich. »Suchen Sie sich lieber ein Buch heraus und lesen Sie jeden Abend eine Seite, vor dem Einschlafen.«
    Das himmlische Alter ego
    Gottes Freund im Oberland
    Gesang der Perle
    Die Säule des Morgenrots
    Die zwölf Retter des Lichtschatzes
    Feinsinnige Organe oder Mittelpunkte
    Der geheimnisvolle Rosengarten
    Das siebte Tal
    Kleine Bändchen in blassgrünem Einband. Anfangs, in meinem Zimmer der Rue d’Argentine, lasen wir, Louki und ich, einander manchmal laut daraus vor. Das war eine Art von Selbstdisziplinierung, wenn wir uns schlecht fühlten. Ich glaube, wir lasen diese Schriften nicht auf die gleiche Weise. Sie hoffte, darin einen Lebenssinn zu entdecken, während mich Wortklang und Satzmelodie fesselten. An jenem Abend in der Buchhandlung Véga schien es mir, als habe sie diesen Mocellini vergessen samt all den unangenehmen Erinnerungen, die er heraufbeschwor. Heute ist mir bewusst, dass sie nicht bloß eine Richtschnur für ihr Verhalten suchte, wenn sie die blassgrünen Bändchen las und die Biographie der Louise du Néant. Sie wollte ausbrechen, fliehen, immer weiter, kompromisslos Schluss machen mit dem Alltagsleben und in freier Luft atmen. Und dann war da noch von Zeit zu Zeit diese panische Angst bei der Vorstellung, die Statisten, die man hinter sich gelassen hat, könnten einen wiederfinden und Rechenschaft fordern. Man musste sich verstecken, um diesen Erpressern zu entgehen, und hoffen, man wäre eines Tages endgültig außer Reichweite. Hoch oben, in den Lüften der Gipfel. Oder in der Seeluft. Ich konnte das gut verstehen. Auch ich schleppte noch unangenehme Erinnerungen mit mir herum und die Alptraumgestalten meiner Kindheit, die ich ein für allemal abservieren wollte.
    Ich habe ihr gesagt, es sei albern, die Straßenseite zu wechseln. Ich habe sie schließlich überzeugt. Von da an machten wir beim Metroausgang Mabillon keinen Bogen mehr um La Pergola. Eines Abends habe ich sie sogar mit hineingenommen in das Café. Wir standen am Tresen und warteten entschlossen auf Mocellini. Und auf all die anderen Schatten der Vergangenheit. In meiner Gegenwart hatte sie nichts zu befürchten. Es gibt kein besseres Mittel, als Gespenstern fest in die Augen zu blicken, damit sie verschwinden. Ich glaube, sie bekam wieder mehr Selbstvertrauen und hätte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, wenn Mocellini aufgetaucht wäre. Ich hatte ihr geraten, in bestimmtem Ton einen Satz zu sagen, den ich in derlei Situationen gewöhnlich von mir gab: »Nein, Monsieur … So heiße ich nicht … Tut mir leid … Das muss ein Irrtum sein …«
    Wir haben an dem Abend vergeblich auf Mocellini gewartet. Und ihn auch nie wieder hinter der Glasfront gesehen.
    In jenem Februar, als sie nicht mehr heimgefahren ist zu ihrem Mann, hat es sehr viel geschneit, und wir hatten in der Rue d’Argentine das Gefühl, in einem Hochgebirgshotel verloren zu sein. Ich merkte, dass es schwierig war, in einer neutralen Zone zu leben. Wirklich, es war besser, näher ans Zentrum heranzurücken. Das Seltsamste an dieser Rue d’Argentine war – ich hatte aber noch andere Straßen in Paris vermerkt, die ihr glichen –, dass sie nicht zu dem Arrondissement passte, dem sie angehörte. Sie passte zu nichts, sie war losgelöst von allem. Mit dieser Schneeschicht führte sie an beiden Enden ins Leere. Ich müsste die Liste der Straßen wiederfinden, die nicht bloß neutrale Zonen sind, sondern schwarze Löcher in Paris. Oder vielmehr Splitter jener dunklen Materie, die in der Astronomie vorkommt, eine Materie, die alles unsichtbar macht und die sogar Ultraviolett-, Infrarot- und Röntgenstrahlen

Weitere Kostenlose Bücher