Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
Identität gefragt wurde und wo man sich verstecken konnte. An jenem Tag haben wir mit den anderen im Condé den Geburtstag von La Houpa gefeiert. Sie hatten uns zum Trinken animiert. Und bei der Rückkehr in mein Zimmer waren wir leicht beschwipst. Ich habe das Fenster geöffnet. Ich habe so laut wie möglich »Tarride! Tarride! …« gerufen. Die Straße war menschenleer, und der Name hallte ganz merkwürdig wider. Ich hatte sogar den Eindruck, das Echo vervielfache ihn. Louki stellte sich neben mich, und auch sie schrie: »Tarride!… Tarride! …« Ein kindischer Spaß, über den wir lachten. Doch am Ende glaubte ich, dieser Mann würde sich melden, und wir könnten alle Verschollenen auferwecken, die in unserer Straße herumspukten. Nach einer Weile klopfte der Nachtportier des Hotels an unsere Tür. Mit Grabesstimme sagte er: »Ein wenig Ruhe, bitte!« Wir hörten ihn mit seinem schweren Schritt die Treppe hinuntergehen. Daraus zog ich den Schluss, er müsse selbst ein Verschollener sein, wie besagter Tarride und all jene, die sich in den möblierten Wohnungen der Rue d’Argentine versteckten.
Daran dachte ich jedesmal, wenn ich durch die Straße lief, zurück in mein Zimmer. Louki hatte mir erzählt, auch sie habe vor ihrer Hochzeit in zwei Hotels dieses Viertels gewohnt, weiter nördlich, Rue d’Armaillé und Rue de l’Étoile. Damals mussten wir einander begegnet sein, ohne uns zu sehen.
Ich erinnere mich an den Abend, als sie beschlossen hat, nicht mehr zu ihrem Mann zurückzukehren. Im Condé hatte sie mir an dem Tag Adamov und Ali Cherif vorgestellt. Ich trug die Schreibmaschine, die Zacharias mir geliehen hatte. Ich wollte Die neutralen Zonen beginnen.
Ich habe die Maschine auf den kleinen Pitchpinetisch im Zimmer gestellt. Den ersten Satz hatte ich schon im Kopf: »Die neutralen Zonen haben wenigstens einen Vorteil: sie sind nur ein Ausgangspunkt, und man verlässt sie früher oder später.« Ich wusste, vor der Schreibmaschine würde alles nicht mehr so einfach sein. Wahrscheinlich würde ich diesen ersten Satz streichen müssen. Und auch den folgenden. Dennoch war ich äußerst guten Mutes.
Sie hätte zum Abendessen zurück in Neuilly sein sollen, aber um acht lag sie immer noch auf dem Bett. Sie machte auch die Nachttischlampe nicht an. Schließlich erinnerte ich sie, es sei Zeit.
»Zeit wofür?«
Am Klang ihrer Stimme hörte ich, dass sie nie wieder die Metro nehmen würde, um an der Station Les Sablons auszusteigen. Ein langes Schweigen zwischen uns. Ich habe mich an die Maschine gesetzt und auf den Tasten herumgeklimpert.
»Wir könnten ins Kino gehen«, sagte sie. »Das vertreibt die Zeit.«
Es genügte, die Avenue de la Grande-Armée zu überqueren, und schon stand man vor dem Studio Obligado. Keiner von uns beiden hat an jenem Abend auf den Film geachtet. Ich glaube, der Zuschauerraum war spärlich besetzt. Ein paar Leute, die irgendein Gericht vor langer Zeit für »verschollen« erklärt hatte? Und wir selbst, wer waren wir? Hin und wieder drehte ich mich zu ihr. Sie schaute nicht auf die Leinwand, sie hielt den Kopf gesenkt und schien in Gedanken versunken. Ich hatte Angst, sie könnte aufstehen und wieder nach Neuilly fahren. Nein. Sie blieb bis zum Ende des Films.
Als wir aus dem Studio Obligado kamen, wirkte sie erleichtert. Sie hat gesagt, nun sei es zu spät für eine Rückkehr zu ihrem Mann. Er hatte für den Abend ein paar seiner Freunde zum Essen eingeladen. Nun war alles vorbei. Es würde nie wieder irgendein Abendessen geben in Neuilly.
Wir sind nicht sofort zurück in das Zimmer gegangen. Wir sind lange durch diese neutrale Zone spaziert, in der wir beide Zuflucht gesucht hatten, zu unterschiedlichen Zeiten. Sie wollte mir die Hotels zeigen, wo sie gewohnt hatte, Rue d’Armaillé und Rue de l’Étoile. Ich versuche mich zu erinnern, was sie mir gesagt hat in jener Nacht. Es war verworren. Nichts als Bruchstücke. Und heute ist es zu spät, um Einzelheiten wiederzufinden, die fehlen oder die ich vielleicht vergessen habe. Noch ganz jung hatte sie ihre Mutter verlassen und das Viertel, in dem sie mit ihr wohnte. Ihre Mutter war gestorben. Aus dieser Zeit hatte sie noch eine Freundin, die sie dann und wann sah, eine gewisse Jeannette Gaul. Zwei- oder dreimal haben wir mit Jeannette Gaul in der Rue d’Argentine zu Abend gegessen, in dem heruntergekommenen Restaurant neben meinem Hotel. Eine Blondine mit grünen Augen. Louki hatte mir erzählt, sie werde Totenkopf
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