Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
genannt, wegen ihres hageren Gesichts, das sich scharf abhob von einem Körper mit üppigen Kurven. Später besuchte Jeannette Gaul sie im Hotel der Rue Cels, und ich hätte nachdenklich werden müssen an dem Tag, als ich die zwei im Zimmer überraschte, wo Äthergeruch schwebte. Und dann ein Nachmittag mit Wind und Sonne auf den Quais, gegenüber von Notre-Dame … ich besah mir die Bücher in den Kästen der Bouquinisten und wartete auf die beiden. Jeannette Gaul hatte gesagt, sie habe in der Rue des Grands-Degrés eine Verabredung mit jemandem, der ihr »ein bisschen Schnee« bringen sollte … Sie musste lächeln über dieses Wort »Schnee«, mitten im Monat Juli … In einem der grünen Kästen der Bouquinisten stieß ich auf ein Taschenbuch mit dem Titel Der schöne Sommer . Ja, und es war ein schöner Sommer, denn er kam mir unvergänglich vor. Und mit einemmal habe ich sie auf der anderen Seite des Quais erblickt. Sie kamen aus der Rue des Grands-Degrés. Louki hat mir zugewinkt. Sie schlenderten mir entgegen, in der Sonne und der Stille. So tauchen sie häufig in meinen Träumen auf, alle beide, in der Nähe von Saint-Julien-le-Pauvre … Ich glaube, ich war glücklich an jenem Nachmittag.
Ich verstand nicht, warum irgendwer Jeannette Gaul den Spitznamen Totenkopf gegeben hatte. Wegen ihrer hohen Wangenknochen und ihrer Schlitzaugen? Und doch erinnerte nichts in ihrem Gesicht an den Tod. Sie war noch in einer Phase, wo die Jugend stärker ist als alles andere. Nichts – weder die schlaflosen Nächte noch der Schnee, wie sie zu sagen pflegte – hinterließ auch nur die kleinste Spur. Wie lange noch? Ich hätte ihr misstrauen sollen. Louki brachte sie nicht mit ins Condé, auch nicht zu den Treffen bei Guy de Vere, als sei dieses Mädchen ihre Schattenseite. Ich habe sie nur einmal in meiner Gegenwart über ihre gemeinsame Vergangenheit reden gehört, und nur andeutungsweise. Mir war, als hätten sie Geheimnisse miteinander. Eines Tages, als ich mit Louki aus der Metrostation Mabillon kam – es war ein Novembertag, gegen sechs Uhr abends und bereits dunkel –, erkannte sie jemanden wieder, der in La Pergola hinter der großen Glasfront saß. Sie ist ein wenig zurückgeschreckt. Ein Mann um die Fünfzig, mit strengem Gesicht und angeklatschtem brünetten Haar. Er saß uns direkt gegenüber, und auch er hätte uns sehen können. Aber ich glaube, er sprach mit jemandem neben sich. Sie griff nach meinem Arm und zog mich auf die andere Seite der Rue du Four. Sie erzählte mir, sie habe diesen Typen vor zwei Jahren mit Jeannette Gaul kennengelernt und er kümmere sich um ein Restaurant im 9. Arrondissement. Sie war nicht darauf gefasst, ihn hier zu sehen, am linken Seineufer. Sie schien verängstigt. Sie hatte die Worte »linkes Seineufer« gebraucht, als wäre die Seine eine Demarkationslinie, die zwei einander fremde Städte trennte, eine Art Eiserner Vorhang. Und der Mann in La Pergola hatte es geschafft, diese Grenze zu überschreiten. Seine Anwesenheit, hier, an der Kreuzung Mabillon, machte ihr wirklich Sorgen. Ich habe nach seinem Namen gefragt. Mocellini. Und warum sie ihm aus dem Weg gehen wollte. Sie hat mir keine klare Antwort gegeben. Bloß, dass dieser Typ unangenehme Erinnerungen wachrief. Wenn sie die Brücken zu jemandem abbrach, dann war es endgültig, dann waren die Leute für sie gestorben. Wenn dieser Mann noch lebte und sie Gefahr lief, ihm zu begegnen, dann war es besser, das Viertel zu wechseln.
Ich habe sie beruhigt. La Pergola war kein Café wie die anderen, seine etwas zwielichtigen Gäste passten gar nicht in dieses studentisch-strebsame Bohemeviertel, durch das wir gerade spazierten. Sie hatte mir doch gesagt, sie habe diesen Mocellini im 9. Arrondissement kennengelernt? Nun, La Pergola war eben eine Art Dependance von Pigalle in Saint-Germain-des-Prés, ohne dass man genau verstanden hätte warum. Es reichte, auf die andere Straßenseite zu gehen und La Pergola zu meiden. Kein Grund, das Viertel zu wechseln.
Ich hätte weiterfragen müssen, damit sie noch mehr erzählt, aber ich wusste ja ungefähr, was sie mir antworten würde, wenn sie mir überhaupt antworten wollte … ich war als Kind und Jugendlicher mit so vielen Mocellinis in Berührung gekommen, mit Individuen, bei denen man sich später fragt, welchen Geschäften sie nachgingen … Hatte ich nicht meinen Vater oft in solcher Gesellschaft gesehen? Nach all den Jahren könnte ich Ermittlungen anstellen über den besagten
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