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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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praktisch, Roland. Und vor allem so französisch. Mein richtiger Name klang viel zu exotisch. In jener Zeit vermied ich es, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. »Roland …« Ich habe mich umgedreht. Niemand. Ich stand mitten auf dem Square, wie beim ersten Mal, als wir nicht wussten, was wir sagen sollten. Beim Erwachen habe ich beschlossen, Guy de Veres alte Adresse aufzusuchen und nachzuschauen, ob an dem Fenster im Erdgeschoss wirklich Efeu wuchs. Ich habe die Metro bis Cambronne genommen. Das war Loukis Linie, als sie noch heimfuhr zu ihrem Mann nach Neuilly. Ich begleitete sie, und wir stiegen oft an der Station Argentine aus, in der Nähe des Hotels, wo ich wohnte. Jedesmal wäre sie gern die ganze Nacht in meinem Zimmer geblieben, doch immer raffte sie sich auf und kehrte zurück nach Neuilly … Und dann, eines Nachts, ist sie bei mir geblieben, in der Rue d’Argentine.
    Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl, als ich am Morgen über den Square Cambronne ging, denn wir waren immer nachts bei Guy de Vere gewesen. Ich habe das Gittertor aufgestoßen und mir gesagt, es bestehe nicht die geringste Aussicht, ihn nach all der Zeit anzutreffen. Keine Buchhandlung Véga am Boulevard Saint-Germain und kein Guy de Vere in Paris. Und keine Louki mehr. Doch am Fenster im Erdgeschoss wuchs Efeu, wie in meinem Traum. Das verwirrte mich sehr. Neulich in der Nacht, war das wirklich ein Traum? Ich stand eine Weile reglos vor dem Fenster. Ich hoffte, Loukis Stimme zu hören. Sie würde mich noch einmal rufen. Nein. Nichts. Stille. Aber ich hatte kein bisschen das Gefühl, seit jener Epoche mit Guy de Vere sei die Zeit vergangen. Im Gegenteil, sie war erstarrt in einer Art Ewigkeit. Mir fiel der Text wieder ein, den ich zu schreiben versuchte, damals, als ich Louki kennengelernt hatte. Ich hatte ihn mit Die neutralen Zonen überschrieben. Es gab in Paris Zwischenzonen, so etwas wie ein no man’s land , wo man am Rand von allem und jedem war, auf Durchreise oder sogar in der Schwebe. Man genoss eine gewisse Immunität. Ich hätte sie auch Freizonen nennen können, aber neutrale Zonen war zutreffender. Eines Abends, im Condé, hatte ich Maurice Raphaël nach seiner Meinung gefragt, immerhin war er Schriftsteller. Er hatte die Schultern gezuckt und mir einen schalkhaften Blick zugeworfen: »Das müssen Sie schon selber wissen, mein Lieber … Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen … Sagen wir mal ›neutral‹ und kein Wort mehr darüber …« Der Square Cambronne und das Viertel zwischen Ségur und Dupleix, all diese Straßen, die auf die Fußgängerbrücken der oberirdischen Metro zuliefen, gehörten zu einer neutralen Zone, und es war kein Zufall, dass ich Louki hier begegnet war.
    Diesen Text habe ich verloren. Fünf Seiten, die ich abgetippt hatte auf der Maschine, die Zacharias, ein Gast des Condé, mir geliehen hatte. Als Widmung hatte ich darauf geschrieben: Für Louki aus den neutralen Zonen . Ich weiß nicht, was sie von diesem Werk hielt. Ich glaube nicht, dass sie es zu Ende gelesen hat. Es war ein etwas abschreckender Text, eine Auflistung nach Arrondissements und mit den Namen all der Straßen, die diese neutralen Zonen eingrenzten. Manchmal ein Häuserblock, oder auch eine viel weitläufigere Fläche. Eines Nachmittags, als wir beide im Condé saßen, hatte sie gerade die Widmung gelesen und zu mir gesagt: »Weißt du, Roland, in jedem der Viertel, von denen du sprichst, könnten wir eine Woche verbringen …«
    Die Rue d’Argentine, wo ich ein Hotelzimmer mietete, lag tatsächlich in einer neutralen Zone. Wer hätte mich hier finden sollen? Die wenigen Menschen, denen ich dort über den Weg lief, waren für das Personenstandsregister bestimmt tot. Als ich eines Tages in einer Zeitung blätterte, war ich in der Rubrik »gerichtliche Bekanntmachungen« auf eine Meldung gestoßen mit dem Titel: »Verschollenheitserklärung«. Ein gewisser Tarride war seit dreißig Jahren nicht mehr an seinem Wohnort erschienen und hatte auch nichts mehr von sich hören lassen, und das Gericht hatte ihn für »verschollen« erklärt. Ich hatte Louki die Annonce gezeigt. Wir waren in meinem Zimmer in der Rue d’Argentine. Ich hatte ihr gesagt, ich sei überzeugt, dieser Typ wohne in der Straße, mit zig anderen, die ebenfalls für »verschollen« erklärt worden waren. Übrigens war an allen um mein Hotel liegenden Gebäuden der Hinweis »möblierte Wohnungen« angebracht. Durchgangsstationen, wo niemand nach seiner

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