Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
einen marineblauen Anzug und ein himmelblaues Hemd mit offenem Kragen. Wortlos führte er mich in einen Raum, der wohl als Wohnzimmer zu bezeichnen war. Er deutete auf ein Kanapee hinter einem niedrigen Tisch, und wir setzten uns nebeneinander. Es fiel ihm schwer, etwas zu sagen. Um ihm über seine Befangenheit hinwegzuhelfen, habe ich so einfühlsam wie möglich gesagt: »Es geht also um Ihre Frau?«
Er versuchte einen gleichgültigen Ton anzuschlagen. Schenkte mir ein kaltes Lächeln. Ja, seine Frau war vor zwei Monaten verschwunden, nach einem banalen Streit. War ich der erste Mensch, mit dem er seit diesem Verschwinden sprach? Die Metalljalousie an einem der Panoramafenster war heruntergelassen, und ich fragte mich, ob sich dieser Mann seit zwei Monaten in seiner Wohnung eingeschlossen hatte. Doch außer der Jalousie war keine Spur von Unordnung und Schlendrian in diesem Wohnzimmer. Nach einem Augenblick des Zögerns fand er zu einer gewissen Selbstsicherheit.
»Ich möchte, dass sich diese Situation schnellstens aufklärt«, sagte er schließlich.
Ich betrachtete ihn genauer. Sehr helle Augen unter schwarzen Brauen, hohe Wangenknochen, ein ebenmäßiges Profil. Und in seiner Haltung, in seinen Bewegungen eine sportliche Robustheit, die noch betont wurde durch sein kurzes Haar. Man hätte ihn sich gut auf einem Segelboot vorstellen können, mit nacktem Oberkörper, als einsamer Seemann. Und trotz so viel offensichtlicher Stärke und Verführungskraft hatte seine Frau ihn verlassen.
Ich wollte wissen, ob er während all der Zeit versucht hatte, sie wiederzufinden. Nein. Sie hatte ihn drei-, viermal angerufen und bekräftigt, dass sie nicht zurückkehren werde. Sie riet ihm eindringlich davon ab, mit ihr in Verbindung zu treten, und gab keinerlei Erklärung. Ihre Stimme hatte sich verändert. Sie war nicht mehr derselbe Mensch. Eine sehr ruhige, sehr selbstsichere Stimme, die ihn verstörte. Er und seine Frau hatten einen Altersunterschied von etwa fünfzehn Jahren. Sie war zweiundzwanzig. Er sechsunddreißig. Während er mir diese Dinge erzählte, spürte ich bei ihm eine gewisse Reserviertheit, ja sogar Kälte, die wahrscheinlich das Ergebnis dessen war, was man gute Erziehung nennt. Jetzt hätte ich bohrendere Fragen stellen müssen, aber ich wusste nicht mehr, ob es die Mühe lohnte. Was wollte er eigentlich? Dass seine Frau zurückkam? Oder suchte er nur zu begreifen, warum sie ihn verlassen hatte? Vielleicht genügte ihm das? Außer Kanapee und niedrigem Tisch kein anderes Möbelstück in diesem Wohnzimmer. Die Panoramafenster gingen auf die Avenue, und nur ganz selten fuhren Autos vorbei, sodass die Erdgeschosslage nicht störte. Langsam wurde es dunkel. Er knipste eine Lampe mit Dreifuß und rotem Schirm an, die neben dem Kanapee stand, zu meiner Rechten. Wegen des Lichts musste ich blinzeln, ein weißes Licht, das die Stille noch verstärkte. Ich glaube, er wartete auf meine Fragen. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen. Um Zeit zu gewinnen, zog ich aus der Innentasche des Jacketts mein Spiralheftchen und meinen Kugelschreiber und machte mir ein paar Notizen. »Er, 36 Jahre. Sie, 22. Neuilly. Erdgeschossappartement. Keine Möbel. Panoramafenster auf die Avenue de Bretteville. Kein Verkehr. Ein paar Zeitschriften auf dem niedrigen Tisch.« Er wartete, ohne ein Wort zu sagen, als wäre ich ein Arzt, der ein Rezept ausstellt.
»Der Mädchenname Ihrer Frau?«
»Delanque. Jacqueline Delanque.«
Ich habe ihn nach Geburtsdatum und -ort dieser Jacqueline Delanque gefragt. Auch nach ihrem Hochzeitsdatum. Hatte sie einen Führerschein? Eine regelmäßige Arbeit? Nein. Hatte sie noch Familie? In Paris? In der Provinz? Ein Scheckheft? Während er mit trauriger Stimme antwortete, notierte ich all diese Einzelheiten, welche oft der einzige Beweis sind für die flüchtige Existenz eines Menschen auf Erden. Vorausgesetzt, man findet eines Tages das Spiralheftchen wieder, in das irgendwer sie hineingeschrieben hat, mit einer so winzigen, kaum leserlichen Handschrift wie der meinen.
Jetzt musste ich zu heikleren Fragen übergehen, solchen, mit denen man in die Privatsphäre einer Person vordringt, ohne um Erlaubnis zu bitten. Mit welchem Recht?
»Haben Sie Freunde?«
Ja, ein paar Leute, die er ziemlich regelmäßig sah. Er hatte sie an einer Wirtschaftshochschule kennengelernt. Einige waren bereits Schulkameraden gewesen, am Lycée Jean-Baptiste-Say.
Mit dreien von ihnen hatte er sogar versucht, eine Firma
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