Im Dienst des Seelenfängers
Menschen uns mögen.
Während Raven systematisch Pfeile in einen roten Lappen an einem Strohballen jagte, ver- faßte ich eines meiner Phantasieszenarien über die Lady. Ich hatte schon Schwierigkeiten ge- habt, den Ballen zu treffen, geschweige denn den Lappen. Offenbar konnte Raven gar nicht danebenschießen.
Dieses Mal spielte ich mit ihrer Kindheit. Das ist etwas, das ich mir bei jedem Schurken gerne ansehe. Welche Schlaufen und Haken wanden sich in dem Band, das die Kreatur in Charm mit dem kleinen Mädchen von einst verband. Denken wir nur einmal an kleine Kinder. Nicht viele von ihnen sind nicht niedlich und liebenswert und kostbar, süß wie Honig in But- ter gerührt. Woher kommen also all die bösen Menschen? Ich gehe durch die Baracken und frage mich, wie ein kicherndes, neugieriges Kleinkind zu einem Dreifinger, einem Jolly oder einem Schweiger werden kann.
Kleine Mädchen sind doppelt so kostbar und unschuldig wie kleine Jungen. Ich kenne keine Kultur, in der sie nicht so aufwachsen. Woher kommt dann also eine Lady? Oder eine Wisper, was das angeht? In meiner neuesten Geschichte spekulierte ich darüber.
Goblin setzte sich neben mich. Er las, was ich geschrieben hatte. »Ich bin anderer Mei- nung«, sagte er. »Ich glaube, sie hat von Anfang an eine bewußte Entscheidung getroffen.« Langsam drehte ich mich zu ihm und war mir dabei überdeutlich Seelenfängers bewußt, der einige Meter hinter mir stand und zusah, wie die Pfeile flogen. »Ich glaube eigentlich nicht, daß es so war, Goblin. Es ist… Nun, du weißt schon. Du willst es verstehen, also setzt du es dir so zusammen, daß es für dich Sinn ergibt.« »Das machen wir alle. Im Alltag nennt man das etwas entschuldigen.« Es stimmt schon, schiere Motive sind schwer zu verdauen. Wenn die meisten Menschen mein Alter erreicht haben, haben sie ihre Motive so oft und so gründlich übertüncht, daß sie sie gar nicht mehr nachvollziehen können.
Ich bemerkte einen Schatten, der auf mich fiel. Ich sah auf. Seelenfänger streckte eine Hand
aus und forderte mich auf, mich wieder am Bogen zu versuchen. Raven hatte seine Pfeile ein- gesammelt, stand in der Nähe und wartete, daß ich an die Abschußlinie trat. Meine ersten drei Schäfte spießten den Lappen auf. »Na, wie war das?« sagte ich, drehte mich um und verneigte mich.
Seelenfänger las in meinem kleinen Märchen. Er hob den Blick zu mir. »Nun aber wirklich, Croaker! So war es doch gar nicht. Wußtest du denn nicht, daß sie ihre Zwillingsschwester ermordet hat, als sie vierzehn Jahre alt war?« Ratten mit eisigen Krallen rannten mir über das Rückgrat. Ich drehte mich um, ließ einen Pfeil fliegen. Er fetzte weit rechts am Ballen vorbei. Ich verstreute noch ein paar und brachte nichts anderes zustande, als die Tauben im Hintergrund zu verärgern. Fänger nahm den Bogen entgegen. »Deine Nerven sind nicht die besten, Croaker.« Mit ver- wischten Bewegungen schoß er drei Pfeile innerhalb eines Zolls in den Lappen. »Übe weiter. Dort draußen wirst du unter größerem Druck stehen.« Er reichte mir den Bogen zurück. »Das Geheimnis liegt in der Konzentration. Tu einfach so, als ob du Wunden vernähst.« Tu einfach so, als ob du Wunden vernähst. Na klar. Ich habe schon einiges an exotischer Notversorgung inmitten von Schlachtfeldern verrichtet. Stimmt. Aber das hier war etwas an- deres.
Die große uralte Entschuldigung. Ja, aber… Das ist etwas anderes. Ich beruhigte mich so weit, daß ich meine restlichen Pfeile in den Ballen jagen konnte. Ich sammelte sie wieder ein und machte Platz für Raven. Goblin reichte mir mein Schreibmaterial. Gereizt zerknüllte ich meine kleine Fabel. »Brauchst du etwas für deine Nerven?« fragte Goblin. »Jau. Die Eisenspäne, oder was Raven auch immer ißt.« Mein Selbstvertrauen war ziemlich angeschlagen.
»Versuch es hiermit.« Goblin reichte mir einen kleinen sechszackigen Stern aus Silber an einer Halskette. In der Mitte befand sich ein Medusenkopf aus Jett. »Ein Amulett?«
»Ja. Wir dachten, daß du es morgen brauchen könntest.« »Morgen?« Niemand sollte wissen, was vor sich ging. »Wir haben Augen im Kopf, Croaker. Dies hier ist die Kompanie. Vielleicht wissen wir nicht, was es ist, aber wir bemerken schon, wenn etwas vor sich geht.« »Ja. Das ist wohl so. Danke, Goblin.«
»Ich und Einauge und Schweiger, wir alle haben daran gearbeitet.« »Danke. Was ist mit Raven?« Wenn jemand mir eine solche Geste erweist, fühle ich mich besser, wenn ich das
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