Im Dienst des Seelenfängers
und die Traditionen der Kompanie erinnern, welche sich über Jahrhunderte und Tausende von Meilen erstrecken.
Ich legte den ausgewählten Text auf ein grobes Pult und begann mit der üblichen Formel. »Guten Abend, Brüder. Eine Lesung aus den Annalen der Schwarzen Schar, der letzten der Freien Kompanien von Khatovar. Heute lese ich aus dem Buch Kette, das im frühen zweiten Jahrhundert der Kompanie von den Chronisten Lees, Agrip, Holm und Stroh verfaßt wurde. Zu jener Zeit stand die Kompanie im Dienste des Schmerzensgottes von Cho’n Delor. Damals war die Kompanie noch wirklich schwarz. Die Lesung stammt von Chronist Stroh. Sie handelt von der Rolle der Kompanie bei den Er- eignissen um den Fall von Cho’n Delor.« Ich begann vorzulesen und dachte bei mir, daß die Kompanie schon vielen verlorenen Sachen gedient hatte. Die Cho’n-Delor-Ära wies viele Ähnlichkeiten mit der unsrigen auf, obgleich mit einer da- maligen Stärke von mehr als sechstausend Mann die Kompanie besser in der Lage gewesen war, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Ich ließ mich völlig hinreißen. Der alte Stroh hatte einen Teufelsstift geführt. Ich las drei Stunden lang, donnerte wie ein wahnwitziger Prophet und hielt sie in meinem Bann. Als ich endete, klatschten sie Beifall. Ich trat von dem Pult zurück und fühlte mich, als ob mein Le- ben erfüllt sei.
Die körperliche und geistige Anstrengung meines Auftrittes schlug zu, als ich meine Barak-
ke betrat. Als Halboffizier stand mir ein eigenes kleines Zimmer zu. Ich taumelte direkt dort- hin.
Raven wartete auf mich. Er saß auf meiner Koje und machte etwas Künstlerisches mit einem Pfeil. Um den Schaft war ein Silberreif gewunden. Offenbar gravierte er etwas ein. Wenn ich nicht so erschöpft gewesen wäre, hätte ich Neugier empfunden. »Du warst hervorragend«, sagte Raven. »Sogar ich habe es gefühlt« »Hä?«
»Du hast mich verstehen lassen, was es damals bedeutete, ein Bruder in der Schwarzen Schar zu sein.«
»Was es einigen immer noch bedeutet.«
»Ja. Und mehr noch. Du hast sie dort erreicht, wo sie sich lebendig fühlen.« »Ja. Sicher. Was machst du da?«
»Einen Pfeil für den Hinker. Mit seinem wahren Namen darauf. Fänger hat ihn mir gege- ben.«
»Oh.« Vor lauter Erschöpfung ließ ich die Sache auf sich beruhen. »Was wolltest du von mir?«
»Zum ersten Mal, seit meine Frau und ihre Liebhaber versuchten, mich zu ermorden und mir meine Rechte und Titel abzunehmen, hast du mich etwas empfinden lassen.« Er stand auf, schloß ein Auge, spähte entlang des Pfeilschaftes. »Danke, Croaker. Eine Zeitlang habe ich mich wieder wie ein Mensch gefühlt.« Mit langen Schritten verließ er das Zimmer. Ich brach auf der Koje zusammen und schloß die Augen. Mir fiel wieder ein, wie Raven sei- ne Frau erwürgt hatte, ihr den Ehering abgenommen und dabei kein einziges Wort gesagt hat- te. In diesem einen rasch hervorgestoßenen Satz hatte er mehr von sich offenbart als seit dem Tag, wo wir uns das erste Mal begegnet waren. Sonderbar. Ich schlief mit dem Gedanken ein, daß er mit allen seine Rechnungen beglichen hatte, nur nicht mit der ursprünglichen Quelle seiner Verzweiflung. Der Hinker war unantastbar gewe- sen, weil er der Lady selbst gehörte. Aber nun nicht mehr. Raven würde sich auf morgen freuen. Ich fragte mich, wovon er heute nacht wohl träumen würde. Und ob er noch einen Lebenssinn hatte, wenn der Hinker tot war. Ein Mann kann nicht nur von Haß leben. Würde er sich überhaupt die Mühe machen, die Ereignisse danach überle- ben zu wollen?«
Vielleicht war es das, was er sagen wollte. Ich hatte Angst. Ein Mann, der so dachte, konnte leicht unvorsichtig werden, eine Gefahr für die in seiner Nähe.
Eine Hand ergriff meine Schulter. »Es ist Zeit, Croaker.« Der Hauptmann weckte mich höchstpersönlich.
»Ja. Ich bin wach.« Ich hatte nicht gut geschlafen. »Fänger ist bereit.«
Draußen war es immer noch dunkel. »Wie spät ist es?« »Beinahe vier. Er will vor Tagesanbruch unterwegs sein.« »Oh.«
»Croaker? Paß da draußen auf dich auf. Ich will dich wieder zurückhaben.« »Sicher, Hauptmann. Du weißt doch, daß ich keine Risiken eingehe. Hauptmann? Wieso ei- gentlich Raven und mich?« Vielleicht sagte er es mir jetzt. »Er sagt, die Lady bezeichnet es als Belohnung.« »Im Ernst? Feine Belohnung.« Ich tastete nach meinen Stiefeln, als er zur Tür ging. »Haupt- mann? Danke.«
»Schon gut.« Er wußte, daß ich seine Besorgnis meinte. Als ich mein Wams
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