Im Dienst des Seelenfängers
Thema wechsele.
»Raven braucht keins. Raven ist sein eigenes Amulett. Setz dich. Wir wollen uns unterhal-
ten.«
»Ich kann dir nichts darüber sagen.«
»Ich weiß. Ich dachte, du wolltest über den Turm Bescheid wissen.« Er hatte noch nicht über seinen Besuch gesprochen. Ich hatte auch nicht mehr damit gerechnet. »In Ordnung. Erzähle.« Ich sah wie gebannt auf Raven. Ein Pfeil nach dem anderen schlug in den Lappen ein.
»Willst du es nicht aufschreiben?«
»Oh. Ja.« Ich holte Stift und Papier hervor. Die Männer sind von der Tatsache, daß ich die Annalen führe, zutiefst beeindruckt. Ihre einzige Unsterblichkeit wird sich darin befinden. »Bin froh, daß ich nicht gegen ihn gewettet habe.« »Gegen wen gewettet?«
»Raven wollte auf unsre Schießkunst wetten.« Goblin schnaubte. »Wirst du allmählich schlau genug, nicht auf Wetten zu setzen, bei denen man dich über den Tisch zieht? Dann schreib mal zu.« Er begann mit seiner Geschichte. Den Gerüchten, die ich hier und dort aufgeschnappt hatte, fügte er nicht viel hinzu. Er be- schrieb den Ort, den er aufgesucht hatte, als eine große zugige Kiste von Raum, düster und staubig. Was ich vom Turm eben erwartet hatte. Oder von jeder anderen Burg. »Wie sah sie aus?« Das war das faszinierendste Rätsel. Mir schwebte ein geistiges Bild vor Augen: eine dunkelhaarige, alterslose Schönheit mit einer sexuellen Ausstrahlung, die bloße Sterbliche mit der Gewalt einer Keule traf. Seelenfänger sagte, daß sie schön war, aber dafür fehlte mir eine unabhängige Bestätigung. »Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht.« »Was soll das heißen, du erinnerst dich nicht? Wieso erinnerst du dich nicht?« »Reg dich nicht auf, Croaker. Ich kann mich nicht daran erinnern. Sie stand vor mir, dann… Dann konnte ich nur noch dieses riesige gelbe Auge sehen, das größer und immer größer wurde und glatt durch mich hindurchsah, jedes Geheimnis sah, das ich jemals gehabt habe. Das ist alles, an das ich mich erinnern kann. Ich habe immer noch Alpträume davon.« Ich seufzte erbittert auf. »Ich nehme mal an, daß ich das hätte erwarten sollen. Weißt du, sie könnte hier glatt vorbeispazieren, und niemand würde sie erkennen.« »Ich nehme mal an, daß sie es auch so will, Croaker. Wenn alles auseinanderfällt, so wie es aussah, bevor wir diese Papiere gefunden haben, kann sie sich einfach zurückziehen. Nur die Zehn könnten sie identifizieren, und um die würde sie sich schon irgendwie kümmern.« Ich bezweifle, daß es so einfach wäre. Menschen wie die Lady haben Schwierigkeiten, ge- ringere Stellungen einzunehmen. Abgesetzte Fürsten benehmen sich immer noch wie Fürsten. »Danke, daß du dir die Mühe gemacht hast, mir davon zu erzählen, Goblin.«
»Das war keine Mühe. Ich hatte ja nichts zu erzählen. Der einzige Grund, warum ich erst
jetzt damit zu dir kam, war, daß es mich so sehr verstört hat.« Raven hatte mittlerweile seine Pfeile wieder eingesammelt. Er kam zu uns und sagte zu Go- blin: »Warum pflanzt du nicht eine Wanze in Einauges Schlafsack oder irgend etwas in der Art? Wir haben hier zu tun.« Meine unzuverlässige Schießkunst machte ihn nervös. Wir mußten uns aufeinander verlassen. Falls einer von uns danebenschoß, bestand eine gute Chance, daß wir starben, bevor ein zweiter Pfeil abgeschossen werden konnte. Ich wollte nicht daran denken. Aber wenn ich darüber nachdachte, verbesserte sich meine Konzentrati- on. Dieses Mal plazierte ich die meisten Pfeile im Lappen.
Es war schon eine verdammt lästige Sache, die ich in der Nacht, bevor Raven und ich uns dem Unbekannten stellten, tun mußte, aber der Hauptmann wollte eine drei Jahrhunderte alte Tradition einfach nicht außer acht lassen. Er weigerte sich auch, unsere Proteste zur Kenntnis zu nehmen, daß wir von Seelenfänger eingezogen worden waren, und rückte auch nicht mit den zusätzlichen Kenntnissen heraus, über die er offenbar verfügte. Ich meine, ich verstand schon, was Fänger erledigt haben wollte und warum, mir war bloß nicht klar, warum er woll- te, daß Raven und ich uns der Sache annahmen. Daß der Hauptmann ihn darin unterstützte, machte die Sache nur verwirrender.
»Warum, Croaker?« fragte er schließlich. »Weil ich dir einen Befehl gegeben habe, deshalb. Jetzt geh da raus und halte deine Lesung.« Einmal im Monat versammelt sich die ganze Schar, damit der Chronist ihnen aus den Wer- ken seiner Vorgänger vorliest. Diese Lesungen sollen die Männer an die Geschichte
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