Im Dunkel der Nacht (German Edition)
Zimmer gefunden.« Sie sah auf den Boden.
In die Erziehungsanstalt wegen ein bisschen Gras? Das erschien äußerst streng, besonders in den frühen 90ern. »Das war alles?«
»Es war genug für Dad. Er sagte, wir täten Max einen Gefallen, wenn wir ihn von den schlechten Einflüssen befreiten, ehe es noch schlimmer würde.« Sie drehte sich um und fing an, einige Umschläge auf der Anrichte zu sortieren. Ihre Bewegungen waren steif und fahrig.
»Möchten Sie, dass wir jemanden anrufen? Oder möchten Sie jemanden verständigen, damit Sie jetzt nicht alleine sein müssen?«
Sie drehte sich ihm zu, lächelte und schüttelte den Kopf. »Ist schon gut. Ich muss bald auf die Arbeit. Außerdem ist es nicht so furchtbar schockierend. Er ist vor zwanzig Jahren verschwunden. Ich wusste, dass er womöglich tot ist. Ich hatte nur immer gehofft …«, ihre Stimme verklang.
Die Familie hoffte immer. Jeder sprach darüber, die Familie müsse endlich zur Ruhe kommen, wenn jemand vermisst wurde. Und irgendwie brachte eine Leiche Ruhe. Sie konnten aufhören, sich Sorgen zu machen. Sie konnten aufhören zu warten. Sie konnten anfangen zu trauern.
Doch sie brachte auch alle Hoffnung zum Erlöschen. Vielleicht war ein Funken Hoffnung im Herzen all die Sorgen wert.
»Wo arbeiten Sie?«, fragte Rodriguez.
»Ich bin Krankenschwester in der Notaufnahme von St. E. Ich mache dort die Nachtschicht.« Sie sah nach oben auf die Uhr. Es war jetzt fast acht Uhr. »In ein paar Stunden muss ich anfangen.«
»Gut, dann danke noch mal für das Foto. Wir werden eine Kopie machen und Ihnen das Original so schnell wie möglich zurückgeben. Wir informieren Sie natürlich auch, wenn wir etwas Konkretes wissen. Melden Sie sich bis dahin einfach, wenn Ihnen etwas einfallen sollte.«
Sie nickte und brachte die beiden zur Tür.
Während sie zum Auto gingen, ließ Zach den Blick über das mit falschen Spinnweben und Kürbislaternen geschmückte Haus schweifen.
»Ich bin dafür, dass wir als Nächstes mit dem Stiefvater reden«, sagte Rodriguez.
Zach stieg ins Auto. »Ganz genau.«
Sie waren weg. Veronica saß am Küchentisch und legte ihre Hände flach auf das Holz. Sie versuchte, seine Ruhe und Stabilität aufzusaugen. Wie viel schlimmer würde das noch werden? McKnight hatte gesagt, Max wäre seit einiger Zeit tot. Ein Jahr? Zehn Jahre? Sie wussten es vermutlich selbst noch nicht. War er gerade auf dem Weg zurück zu ihr gewesen, als er in dieser Baugrube endete? Oder war er noch immer am Davonlaufen gewesen?
Würde sie es jemals erfahren?
Wenn nicht genug von Max übrig war, um ihn zu identifizieren, wie konnte es dann genug für eine Ermittlung geben? Veronica wusste nicht, worauf sie hoffen sollte. Zu wissen, dass er tot war, war schlimm genug. Aber in die Zeit zurückgehen zu müssen, als er noch da war? Das war gelinde gesagt grauenhaft.
Manche Kinder lernten es, traumatische Erlebnisse zu verdrängen. Sie wünschte, sie gehörte zu diesen Kindern. Es wäre zu schön gewesen, einen Dunstschleier um ihre Kindheit hüllen zu können.
Ganz musste sie sie nicht ausblenden, denn immerhin hatte sie ihr einige wertvolle, wenn auch unangenehme Lektionen beschert. Wie man einen wütenden Alkoholiker besänftigt. Welches Essen sich mit einem überirdischen Kater verträgt. Wann man sich ducken und wann man sich verstecken sollte. Allerdings gab es keine Notwendigkeit, sich an alles in dem Maße zu erinnern, wie sie es tat. Keine Notwendigkeit, davon zu träumen oder im Berufsstress davon übermannt zu werden.
Die meiste Zeit hielt sie die Tür zur Vergangenheit fest verschlossen. Doch im Moment war das nicht so einfach. Bilder fluteten ihr Gedächtnis: das von Wut verzerrte Gesicht ihres Vaters, der Max spuckend anbrüllte. Max’ Kopf, der nach einem harten Schlag zur Seite flog, seine Schreie, als ihm der Arm auf den Rücken gedreht wurde. Die rassistischen Beschimpfungen. Die Beleidigungen. Die Tränen ihrer Mutter. Die Scham ihres Bruders und sein stiller Mut.
Die Dinge hatten sich ein wenig beruhigt, nachdem Max wegging. Ihr Vater war nicht mehr so leicht zu reizen gewesen. Es hatte sogar Abendessen gegeben, bei denen kein Geschirr geflogen und niemand in Tränen ausgebrochen war. Lange hatte es allerdings nicht angehalten. Zwar ging ihr Vater nie mit der gleichen Grausamkeit auf ihre Mutter los, wie er es bei Max getan hatte, doch Veronica begriff inzwischen, dass das Ziel des Ärgers für den Ärger als solchen zweitrangig war. Etwas
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