Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Dunkel der Nacht (German Edition)

Im Dunkel der Nacht (German Edition)

Titel: Im Dunkel der Nacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eileen Carr
Vom Netzwerk:
hatten. Es war unwahrscheinlich, aber den Versuch wert.
    Zachs Handy vibrierte in seiner Tasche. Es war die Gerichtsmedizin.
    »Ich habe Informationen für euch. Hinsichtlich der Überreste des Jungen.«
    »Wir sind schon unterwegs.«
    Veronica ging zielgerichtet ins Badezimmer und ließ unterwegs ihre Kleidung und Habseligkeiten fallen. Handtasche und Schlüssel hatte sie schon an der Tür abgelegt. Als Nächstes folgten ihre Schuhe. Dann ihr Oberteil und die Hose. Ihre Unterwäsche landete unmittelbar vor der Dusche.
    Sie stand unter dem heißen Wasser, bis der Vorrat erschöpft war. Ihre Haut war rot und gereizt, doch noch immer fühlte sie nichts. Die Hitze des Wassers und der Geruch der Seife waren getrübt, als würde sie beide aus großer Distanz wahrnehmen. Sie stand unter Schock, das wusste sie. Es medizinisch zu bezeichnen änderte allerdings nicht das Geringste. Nicht immer war Wissen Macht.
    Sie zog die Hose ihres Flanellpyjamas und ein ärmelloses Unterhemd an und ging in die Küche. Sie war nicht hungrig, aber sie wusste, dass sie Kraft brauchen würde. In eine Schüssel füllte sie Müsli und Milch.
    Wenn in Büchern oder Filmen Menschen starben, füllte sich das Trauerhaus schnell mit Aufläufen und Kuchen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das bei ihrem Vater passierte, war äußerst gering. Als ihre Mutter starb, brachten einige Nachbarn und ihre Mitschülerinnen etwas Essen vorbei. Ihr Vater war jedoch mehr als undankbar für diese Aufmerksamkeiten gewesen. Er hatte Jahre damit zugebracht, sich von allen Nachbarn zu entfremden, sodass diese nun vielmehr eine Siegesfeier ausrichten dürften, anstatt ihr Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen.
    Veronica legte ihren Kopf in die verschränkten Arme auf dem Tisch neben ihrem unangetasteten Müsli. Sie wünschte sich, ihr Vater wäre ein anderer Mensch gewesen. Sie wünschte sich, dass die Nachbarn am Boden zerstört wären und seine Freunde schmerzlichen Verlust empfänden.
    Sie wünschte sich, dass sie nicht der einzige Mensch auf diesem Planeten gewesen wäre, der um ihn trauerte. Von allen Momenten in ihrem Leben, in denen sie sich einsam gefühlt hatte, war dies der schlimmste.
    Sie richtete sich schließlich auf und aß ihr Müsli, während sie überlegte, was als Nächstes zu tun war. Sie musste Vorbereitungen treffen, doch sie wusste nicht, wann die Leiche ihres Vaters freigegeben würde. Wie sollte sie eine Beerdigung ausrichten, wenn sie nicht einmal wusste, wann die Leiche verfügbar war?
    Wem machte sie etwas vor? Wer würde denn überhaupt auf die Beerdigung ihres Vaters kommen wollen?
    Also keine Pläne zur Beisetzung. Den Gedanken konnte sie abhaken. Sie würde damit leben können, wenn sie zu gegebener Zeit die Einzige war, die am Trauergottesdienst teilnahm. Es versetzte ihrem Herzen einen kleinen Stich, doch sie würde damit leben können.
    Es gab Leute, die sie verständigen musste. Seinen Vorgesetzten zum Beispiel. Sie sah auf die Küchenuhr. Es war bereits viel zu spät. Sie suchte die Nummer von Jiffy Lube heraus und wählte.
    Sie brauchte einige Anläufe, bis sie mit dem Manager verbunden wurde, doch es gelang ihr schließlich. »Guten Tag, ich bin Veronica Osborne. George Osbornes Tochter. Ich wollte Sie informieren, dass er heute, ähm, nicht zur Arbeit kommen kann.«
    »Schon wieder krank?«, fragte der Manager. Seine Stimme war rauchig. »Oder schläft er seinen Rausch aus?«
    Sie fasste sich, als sie sagte: »Nun, nein. Mein Vater ist vergangene Nacht gestorben.«
    »Verzeihung? Haben Sie gesagt, er ist tot?« Sie konnte ihm die Ungläubigkeit nicht zum Vorwurf machen. Noch glaubte sie es ja selbst kaum.
    »Ja, es tut mir leid. Die Neuigkeit ist schockierend, aber …«
    »Und wer waren Sie noch mal?«, unterbrach er sie.
    »Seine Tochter, Veronica.« Geduld, Veronica. Geduld. Nicht unhöflich werden.
    »Ich habe nicht gewusst, dass George eine Tochter hatte.«
    Sie legte den Kopf wieder auf den Tisch und schlug leicht mit der Stirn gegen das Holz. Es war so schön zu wissen, dass ihr Vater derart oft über sie gesprochen hatte, dass seine Kollegen noch nicht einmal wussten, dass sie existierte. Sie konnte sich vorstellen, was ihr Vater gesagt hätte, hätte sie sich über dieses Verhalten beklagt. Er hätte ihr klargemacht, dass er zum Arbeiten dort war und nicht, um Freundschaften zu schließen. Ob er eine Tochter hatte oder nicht, ging niemanden etwas an. Vermutlich hatte er recht, aber das machte den Schmerz nicht kleiner.
    »Ja.

Weitere Kostenlose Bücher