Im Dunkel der Nacht (German Edition)
fort. Veronica ergänzte in Gedanken:
Nicht einmal dein Vater, dieser elende Abschaum der Menschheit.
»Wenn es etwas gibt, das ich tun kann oder das du brauchst, lässt du es mich hoffentlich wissen.« Mrs Masi tätschelte Veronicas Arm und ging die Einfahrt wieder hinunter.
Veronica sah ihr nach. Ihre Anteilnahme schien aufrichtig gewesen zu sein. Wow. Die Dinge änderten sich schnell, nicht wahr? Sie wäre jede Wette eingegangen, dass Mrs Masi gestern noch jeden Versuch befürwortet hätte, ihren Vater die Treppe hinunterzustoßen. Andererseits war es vielleicht sie, die sich all die vergangenen Jahre getäuscht hatte. Ein bisschen perplex bahnte sich Veronica den Weg ins Haus.
Sie war der Meinung, sich seelisch und moralisch ausreichend auf das Durcheinander im Flur vorbereitet zu haben, doch sie hatte sich getäuscht. Sie sprang zurück, schnappte ein paar Mal durch den Mund nach Luft und umging dann das Chaos in Richtung Obergeschoss. Sie wollte in das Büro ihres Vaters, ein Raum, der ursprünglich Max’ Zimmer gewesen war.
Veronica setzte sich an den alten Metallschreibtisch und fuhr mit der Hand über dessen Oberfläche. Er war relativ aufgeräumt, nur ein paar Rechnungen und ein Kontoauszug lagen auf der Tischplatte. Veronica suchte allerdings nicht nach Alltäglichem. Sie öffnete die Schublade rechts unten, die zur Aktenablage vorgesehen war. Darin befanden sich Steuererklärungen, deren Aufbewahrungsfrist längst abgelaufen war. Das Gleiche galt für die Kontoauszüge. Er hatte eine Mappe für das Auto angelegt und eine, in der er die Bedienungsanleitungen der Haushaltsgeräte aufbewahrte.
Sie konnte nichts entdecken, auf dem »Testament« oder »Nach meinem Tod zu öffnen« stand. Sie öffnete die Schubladen des danebenstehenden Aktenschranks. Noch mehr Kontoauszüge, die bis in alle Ewigkeit zurückzureichen schienen. In der untersten Schublade fand sie einen Ordner mit Geburtsurkunden von ihr, ihrer Mutter und ihrem Vater sowie mehrere Kopien des Totenscheins ihrer Mutter. Aber kein Testament.
Vielleicht hatte er keines verfasst. Wenn sie so darüber nachdachte, hätte sie auch nicht mit Bestimmtheit sagen können, ob ihre Mutter eines geschrieben hatte. Als ihre Mutter starb, hatte sie an dergleichen gar nicht gedacht. Sie nahm an, dass ihr Vater der Alleinerbe war. Aber jetzt? Was würde passieren, wenn ihr Vater keinen letzten Willen hatte? Sie musste sich schnellstmöglich darüber schlaumachen.
Sie stieß sich vom Schreibtisch ab und biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht lag das Testament bei einem Anwalt? Bewahrten die nicht grundsätzlich Kopien solcher Dokumente auf? Anhand der Kontoauszüge würde sie vielleicht herausfinden können, ob ihr Vater jemals etwas an einen Anwalt bezahlt hatte. Dann hätte sie zumindest einen Namen und einen Ausgangspunkt.
Aber es gab Ordner über Ordner an Kontoauszügen. Wo sollte sie anfangen? Sie nahm sich die Belege aus dem Todesjahr ihrer Mutter vor. Es machte Sinn, ein neues Testament zu verfassen, wenn der Partner starb, oder? Nicht, dass sie sich darauf hätte verlassen können, dass ihr Vater vernünftige Dinge tat, aber es schien ein naheliegender Gedanke zu sein.
Die Kontoauszüge ihres Vaters waren beruhigend langweilig. Es gab Geldeingänge, hauptsächlich von Arbeitgebern, manchmal auch von der staatlichen Arbeitslosenhilfe. Abbuchungen waren für das Hypothekendarlehen, Gas und Strom sowie seinen Handyvertrag zu verzeichnen. Es gab relativ regelmäßige Barabhebungen und Belastungen für den Kreditkarteneinsatz an Tankstellen und im Supermarkt.
So verhielt es sich in den ganzen Jahren zwischen dem Tod ihrer Mutter und der Gegenwart. Sie beschloss also, weiter zurückzugehen. Es erschien unwahrscheinlich, dass ihre Mutter einen Anwalt gehabt haben sollte, aber Veronica hatte es schon lange aufgegeben zu erwarten, dass sich ihre Eltern so verhielten, wie sie es erwartete. Ihre Logik verwirrte sie. Manchmal dachte sie, sie hatten sich nur so verhalten, um sie um den Verstand zu bringen. Dann sah sie aber ein, dass sie ihnen dafür nicht wichtig genug war. Die beiden waren schlicht und ergreifend sprunghaft, und das war alles, worauf sie sich verlassen konnte.
Die Kontoauszüge vor dem Tod ihrer Mutter lasen sich im Grunde ähnlich, abgesehen von den Zahlungen für Medikamente. Die Kosten dafür hatten sich schnell durch die Ersparnisse ihrer Eltern gefressen, obwohl sie eine hübsche Summe beiseitegeschafft hatten. Viel mehr, als sie
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