Im Dunkel der Schuld
Erschöpfung geübt. Er musste sie lediglich losbinden.
Aber er schaute sie nur an. Dann lächelte er, verschwand, um sich gleich darauf über sie zu beugen. Mit einer kleinen Wasserflasche in der Hand. Ebba vermochte keinen Blick von ihr zu wenden. Sie war von auÃen beschlagen, die Flüssigkeit innen perlte leicht, als er den Schraubverschluss aufdrehte. Es zischte leise. Ein Tropfen fiel ihr auf die Stirn. Sie hätte sich für ihr Leben gern die Lippen geleckt oder einen Schluck genommen. Einen einzigen, groÃen, langen, erfrischenden, nassen Schluck. Hatte sie je etwas Köstlicheres gesehen?
Aber sie bekam nichts. Er führt die Flasche an seinen eigenen Mund und trank, langsam, in langen, gurgelnden Schlucken. Sein Adamsapfel bewegte sich auf und nieder, seine Lippen glänzten feucht, als er die Flasche absetzte und genussvoll ausatmete. Er sah sie unverwandt an, wartete, dann drehte er ganz bedächtig die Flasche um. Kalt platschte ein kleiner Schwall Flüssigkeit auf Gesicht und Hals, lief an den Ohren vorbei und tropfte auf die Unterlage.
»Mmm, mmm, mmmm«, machte Ebba.
Durchhalten! Er quälte sie nur. Er wollte sie nicht umbringen. Noch nicht. Wenn sie ihn dazu brachte, ihr den Knebel zu entfernen, würde sie einen Ausweg finden. Sie würde von hier entkommen! Sie hatte in ihrem Leben immer einen Weg gefunden. Sie musste nur an sich glauben. Sie würde sich keine BlöÃe geben. Nicht vor ihm. Niemals. Stärke hatte schon ihrem Vater imponiert. Es würde auch bei Thomas funktionieren. Er durfte nur nicht merken, dass sie längst kurz vor dem Zusammenbruch stand.
Auch wenn es schwerfiel, schloss sie die Augen. Das hatte ihn gestern schon aufgeregt. Vielleicht lieà er sich zu etwas hinreiÃen, was ihr eine Chance eröffnete. Aber lange hielt sie es nicht durch, denn es war still geworden. Sehr still. Sie konnte ihn atmen hören, ruhig, gleichmäÃig, direkt über ihr. Sie roch Pfefferminze und das vertraute frische Aftershave, immer noch, ohne die Marke zu kennen. Jetzt würde ihr das Wissen sowieso nichts mehr nutzen.
Wenn sie sich nur ein bisschen bewegen könnte!
Wieder hörte sie etwas zischen und sprudeln. Diesmal öffnete sie die Augen nicht, sondern ertrug es, ohne zu zucken, dass er aus einer zweiten Flasche Wasser auf ihr Gesicht träufelte.
Dann geschah das Unfassbare. Etwas zog und zerrte an ihren Lippen, ein heftiger Schmerz begleitete das ReiÃen des Klebebandes, und plötzlich war der trockene Pfropf aus ihrer Mundhöhle verschwunden. Es machte keinen groÃen Unterschied, immer noch war alles trocken in ihr. Ungeduldig streckte sie die Zunge raus, machte sie ganz lang, um ein paar Tropfen zu ergattern. Aber da war nichts mehr. Nur rissige Trockenheit.
Obwohl sie Angst hatte, er könne die Todesfurcht in ihren Augen sehen, blickte sie endlich zu ihm. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt.
»Was hast du deinem Vater gesagt oder ihm angetan, damit er losfuhr? Was?«
Sie wollte etwas antworten, irgendetwas, damit er ihr nicht wieder den Knebel in den Mund schob, aber es kam kein Ton aus ihr heraus, nur ein schwaches Krächzen, das in ihrem wunden Hals wehtat und sie noch intensiver an Wasser denken lieÃ. Es hörte sich erbärmlich an. So ging das nicht. Er würde denken, dass sie am Ende war. Aber das war sie noch lange nicht.
Sie fuhr sich mit der rauen Zunge erneut über den Mund, formte das Wort, das er eher aus der Bewegung ihrer Lippen ablas.
»Wasser? Du hast schon zwei Flaschen gehabt. Sag, was ihr getan habt, dann überlege ich es mir vielleicht.«
»Uuuuum�«
»Ich versteh dich nicht.«
Sie wollte Gewissheit. Sie musste es fragen, auch wenn sie die Antwort längst ahnte.
»Umgebrâ¦cht?«
Seine Mundwinkel verzogen sich. »Immer noch die starke Ebba. Aber das treib ich dir aus. Natürlich habe ich es getan. Es war so leicht! Georg mit seiner Pedanterie. Es gibt übrigens keinen Schulfreund Thomas. Es gibt überhaupt keinen Thomas Flemming. Aber das hättest du beinahe selbst herausgefunden, nicht wahr? Gestern, als du in Kathrins Büro die Diplome studiert hast.«
Richtig. Die Diplome. Sie waren nicht auf den Namen Flemming ausgestellt gewesen, sondern auf eine Familie Leissmann. Otto, Kurt, Waltraud, Thomas und Kathrin Leissmann. Die Namen hatten sie irritiert, sie hatten sie an etwas erinnert, aber sie hatte ja
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