Im Dunkel der Schuld
von Monets Seerosen, das strahlende Blau und Gelb aus den heiteren Motiven von Matisse, das braune Beige der Kubisten, das wolkige Dunkelgrau in Rothkos Chapel-Bildern, das miese überdeckende Schmutzgrün ihres Vaters â¦
Aufhören!
Wiesen im Sommerwind, silbrige Weidenblätter, sattgelbe Sonnenblumenfelder, blauer Himmel, blaugrünes kühles Wasser, kühles Wasser, klar, durchsichtig, frisch â¦
Aufhören!
Wie stellte man Gedanken ab?
Wie hatte sie sich als Kind die schier unendliche Zeit in der Truhe vertrieben? Damals hatte sie sich Auswege überlegt, kleine Tricks, mit denen sich ihre Situation verbessern lieÃ. Leider hatte es einen Unterschied zu ihrer heutigen Lage gegeben: Sie hatte sich darauf verlassen können, dass sie aus dem Gefängnis geholt wurde, sobald ihr Vater genug hatte oder Georg ausreichend geweint und gebettelt hatte.
Jetzt und hier aber war ihre Situation aussichtslos. Sie würde den Sarg nicht lebend verlassen. Es gab keine Möglichkeit, irgendetwas zu verändern oder zu verbessern. Sie war Thomas ausgeliefert.
Wieder versuchte sie, sich wenigstens einen Millimeter zu bewegen. Jeder Knochen und Muskel schmerzte, sie hatte einen steifen Hals, ihr linkes Bein war taub, eine Hand kribbelte, die andere fühlte sich wundgescheuert an. Auch den Mund konnte sie nicht bewegen, ohne dass das Klebeband brannte.
Trotzdem. Sie würde nicht aufgeben. Niemals. Damals hatte sie es auch nicht getan. Nacht für Nacht hatten sie sich zitternd vor Angst vor dem neuen Tag in einem der Kinderschlafzimmer aneinandergekuschelt. Und dann war mit dem Entschluss »Wir bringen ihn um« mit einem Mal alles anders geworden, erträglicher. Allein die Mordfantasien hatten ihnen geholfen durchzuhalten, auch wenn sie erst viele Jahre später indirekt verwirklicht wurden. Die Situation war plötzlich besser gewesen, weil sie Angst gegen Rachepläne eingetauscht hatten, Passivität gegen Aktivität.
Das musste sie jetzt genauso machen. Thomas war allerdings ein anderer Gegner. Bruno hatte sie seelisch gequält, Thomas hingegen hatte bereits drei ihrer Familienmitglieder ausgelöscht. Ihn konnte sie nicht mit einem energischen Satz zum Aufhören bewegen. Er hatte vor, auch sie zu töten, er hatte sie in seiner Gewalt. Sie war wehrlos. Es war lächerlich, sich über Rache oder Flucht Gedanken zu machen. Es gab nichts. Sie würde sterben.
Falsch, falsch. Wenn er ihr den Knebel abnahm, war sie nicht ganz wehrlos.
Ihr Vater hatte nachgegeben, wenn sie nur lange genug Stärke gezeigt hatte. Nicht weinen, nicht jammern, nicht klopfen. Einfach trotzig still liegen, dann kam man wieder frei. Das hatte sie damals gelernt.
Aber ihr Vater war ein grober Klotz gewesen, Stärke hatte für ihn Macht bedeutet.
Thomas hingegen machte Stärke wütend. Er hatte schon als Kind Dinge tun müssen, die über seine körperliche und seelische Kraft gingen. Der weitere Verlauf seines Lebens hatte ihn zum Monster werden lassen. Dieses Monster tat eigentlich genau das Gegenteil von dem, was er tief im Innern gern tun würde, nämlich Menschen helfen. Er wollte eigentlich nicht töten. Der Tod war sein Feind.
Ja! Das war vielleicht ein Ansatzpunkt. Sie musste an seinen Willen, zu helfen und zu heilen, appellieren. Sie musste sich verstellen, sich klein und schwach machen. Konnte sie das überhaupt? Was für eine Frage: Sie musste es tun!
Wenn Thomas ihr den Knebel abnahm, musste sie Theater spielen. Es war ihre einzige Chance.
»Und wenn es nicht klappt?«, hörte sie Rosie im Geiste einwenden.
Dann würde sie sich etwas Neues überlegen müssen.
Ein Wimmern löste sich aus ihrer Brust, schlängelte sich vorbei an dem trockenen, dicken Ding in ihrem Mund, das sie fast erstickte. Der Laut erschreckte sie. Dass sie ihn fabriziert hatte, bedeutete, dass sie noch lebte. Aber wäre sie nicht lieber tot?
Wieder entwich ihr ein jämmerlicher Ton.
Schritte. Ganz entfernt, gedämpft. Stimmengemurmel. Räuspern. Seufzen, Schuhe scharrten. Jemand putzte sich geräuschvoll die Nase.
»Hilfe!«, bäumte sich ihr Lebenswille auf, jedoch stumm, bewegungslos. Niemand ahnte, dass in dem Sarg jemand lag, der noch lebte.
Ein Harmonium setzte ein, leise, wie gedämpft. Ein Kirchenlied. Dasselbe, das sie für Rosies Beerdigung ausgesucht hatte und auch für die Beerdigung ihrer Mutter und für die von Georg.
Tot.
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