Im Dunkel der Schuld
keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, weil Thomas sie abgelenkt hatte.
Jetzt fiel es ihr ein: Er hatte ihr etwas zu trinken gegeben. Etwas Bitteres, und ab dem Zeitpunkt hatte sie ständig mit sich kämpfen müssen, um noch kontrolliert zu denken und zu handeln.
Es musste etwas in dem Getränk gewesen sein, das ziemlich schnell wirkte. Länger als eine Viertelstunde hatte es nicht gedauert, bis sie wehrlos geworden war.
»Otto Leissmann war mein GroÃvater. Kurt und Waltraud meine Eltern. Familienunternehmen in der dritten Generation. Toll hört sich das an, nicht wahr? Das verpflichtet. Da musste jeder ran, weil wir, Kathrin und ich, alles erben sollten. Es war grauenvoll, an jedem einzelnen verdammten Tag, bei jeder neuen, grässlichen Leiche. Du gewöhnst dich nie daran. Es sei denn, es macht dir nichts aus, weil du es als notwendiges Handwerk oder als barmherzige Hilfe für die Angehörigen siehst. Ansonsten zerbrichst du daran. Das hat mein Vater mir früher selbst gesagt, aber nie gefragt, wie es mir ging. Nichts wurde in Frage gestellt, ich musste einfach funktionieren, nachdem Emmi auf der Welt und meine Mutter Tag und Nacht mit ihr beschäftigt war.«
»Nnnnnnâ¦Â«
»Was?«
»Nnnnnisdafür.«
»Natürlich kannst du nichts dafür. Aber später, als ich glaubte, der Hölle entrinnen zu können, als ich endlich Medizin studierte, da habt ihr mich hierher zurückgezwungen. WeiÃt du eigentlich, wie das ist, wenn man von den Leichen träumt, die man gerade hat ausbluten lassen und zugenäht hat? Wie es sich anfühlt, wenn man ihnen mit der Nadel durchs Gesicht sticht, immer schön an den Knochen vorbei? Wie das ist, wenn ein neuer Toter gebracht wird, der mit dem Kopf in die Kreissäge geraten war? Der vielleicht mal dein Freund war und dem du nun für seine Angehörigen sein Gesicht wiedergeben musst? WeiÃt du, wie das Spray riecht, mit dem du dich und den Versorgungsraum einnebelst, damit du den Geruch des Todes nicht einatmest? WeiÃt du, wie das ist, wenn die Schulkameraden dich hänseln? Wenn sie dir in jeder Pause âºLeichnamâ¹ nachrufen, wenn der Stuhl neben dir leer bleibt, wenn niemand in der Turnstunde in deinem Team sein will oder dich auffängt, wenn du vom Reck stürzt? Wenn alle die Berührung mit dir meiden, als seiest du aussätzig? WeiÃt du, wie viele Jahre das so ging? Wie viele Monate, Wochen, Tage, Stunden? Ach, das habe ich dir schon mal erzählt. Es interessiert dich ja nicht sonderlich.«
»Dchhhh.«
»Du willst mich nur weich stimmen. Du meinst, ich habe noch eine Wasserflasche, nicht wahr? Du meinst, ich werde dich schon nicht so schnell sterben lassen. Wenn ich das wollte, hätte ich es ja sofort getan, nicht wahr? Richtig. Ich will euch leiden sehen. Bei dir werde ich mir erst recht Zeit lassen. Am liebsten so lange, wie mein Vater nach dem Unfall im Koma lag und ich Tag für Tag, Nacht für Nacht, Stunde um Stunde gebetet habe, dass der Albtraum aufhört. Dass er aufwacht und ich weiterstudieren kann. Ein Jahr und einundfünfzig Tage habe ich gehofft. Dann ist er gestorben. Am 26. März 1996.«
Der Name auf den Urkunden im Büro. Leissmann. Jetzt erinnerte sie sich. Sie hatte ihn in den Akten ihrer Mutter, im Schreiben der Versicherung, gelesen. Leissmann â so hieà der Unfallgegner ihres Vaters. Das Ritual am Grab. Der 26. März. Jetzt verstand sie.
»Kathrin saà hinten, als dein besoffener Vater frontal auf den Wagen knallte. Das hat ihr die Knochen zertrümmert. Zwei Komma acht Promille hat die Polizei ermittelt. Warum habt ihr ihn fahren lassen? Wie habt ihr ihn dazu gebracht?«
Ebba versuchte den Kopf zu schütteln. Er wusste nichts. Sie hatte eine Chance, ihm zu entkommen. Sie konnte die Schuld den anderen zuschieben, die schon tot waren. Sie konnte eine plausible Geschichte erfinden. Wenn sie nur sprechen könnte.
»Wasssssssaâ¦Â«
»Oh, Ebba«, sagte er und strich ihr über den Kopf. »Du stirbst gleich vor Angst, du musst das nicht verbergen. Ich sehe das auch so. Du kannst keine Bedingungen stellen. Vielleicht gebe ich dir zu trinken, wenn ich die Wahrheit weiÃ. Ihr habt ihn in das Auto getrieben. Das weià ich. Er ist nicht freiwillig losgefahren. Er ist nie betrunken gefahren, habe ich herausgefunden. Also sag mir, was vorgefallen ist. Ich muss es wissen. Vielleicht kann ich dann wieder
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