Im Dunkel der Schuld
Kiste.
Wie von Sinnen zerrte sie an ihren Fesseln, bewegte den Kopf hin und her, so gut es ihr möglich war. Weit ging es nicht. Wie und womit hatte er sie an der Unterlage fixiert?
»Du hast Angst vor der Dunkelheit«, hörte sie seine Stimme direkt über sich.
Alle möglichen Kampfgriffe, Tritte und Kopfnüsse fielen ihr ein, nutzloses Wissen, wenn man sich nicht bewegen konnte. Sie war absolut hilflos, und das machte ihr die gröÃte Angst.
Er verschwand aus ihrem Gesichtsfeld und schob in Zeitlupe den Deckel über sie, ganz so, als wolle er sie mit dieser Langsamkeit zusätzlich quälen.
Im selben Augenblick begann das Sausen und tiefe Brummen in ihrem Kopf, ihr Herz überschlug sich, Panik stieg auf, lieà sie in ihren Fesseln beben, zittern, sich wundscheuern. Sie wimmerte, versuchte ihm Zeichen zu geben, dass es genug war, mehr, als ein Mensch ertragen konnte.
Nicht den Deckel zumachen, flehte sie stumm â aber er hörte sie nicht.
Dunkelheit umfing sie, sie hörte einen Schlag, seine Stimme, die ihr Gute Nacht wünschte, dann war sie allein mit sich und ihrer Furcht, aus der es kein Entrinnen gab. Sie konnte nicht schlafen, nicht ohnmächtig werden, sie konnte gar nichts, auÃer auf ihren Peiniger warten und miterleben, wie sie allmählich den Verstand verlor oder vielleicht vorher verdurstete.
Dreiundvierzig
Samstag, 4. Februar 2012
Ein undefinierbares Geräusch lieà sie aufschrecken. Hatte sie geschlafen? Kaum vorzustellen. Das Brummen und Herzklopfen und die Angst hatten nachgelassen, es war, als habe ihr Körper auf die dringendsten Bedürfnisse umgeschaltet. Atmen. Trinken. Essen.
Und seit einer halben Ewigkeit der Druck, sich zu erleichtern. Sie wollte sich vor Thomas nicht gehen lassen, sie wollte ihre Körperfunktionen, soweit es noch ging, steuern. Aber ewig würde sie es nicht mehr aushalten, obwohl sie nun schon so lange nichts getrunken hatte.
Da war das Geräusch wieder. War das Thomas? Summte er vor sich hin? Das war doch verrückt! Komplett verrückt.
Wieder und wieder hatte sie jede einzelne Phase ihres Zusammenseins durchgespielt, aber sie hatte sich partout an keinen Augenblick erinnert, in dem sie schon früher hätte stutzig werden können.
AuÃer natürlich die Sache mit seiner Unerreichbarkeit.
Sie war auch die Situation von gestern Szene für Szene noch einmal durchgegangen. Wann hätte sie weglaufen können? Hätte sie ihm mit einem gezielten Tritt die Spritze aus der Hand schlagen können? Aber es war alles so schnell gegangen und so unvermutet gekommen. Bei einem Fremden hätte sie eine bessere Reaktion gehabt. Andererseits war ihr doch schon vor dem Blackout ein Schauer nach dem anderen über den Rücken gelaufen. Warum hatte sie nicht besser auf sich aufgepasst?
Sie fand keine Antwort.
Dann wanderten ihre Gedanken weiter, zum 3. Februar, dem Schicksalstag der Familie Seidel. Woher kannte Thomas das Datum?
Wieder dieses Geräusch, kein menschliches, eher wie das Summen eines Akkuschraubendrehers. Schraubte Thomas den Sargdeckel fest? Hatte er beschlossen, sie sterben zu lassen, ohne noch einmal mit ihr zu reden?
Dann würde sie in einer Kiste verenden, wie sie es ihr Leben lang gefürchtet hatte.
Sie durfte nicht aufgeben. Seine Schwester kam morgen zurück. Es gab Angestellte. Der Betrieb würde spätestens Montag wieder normal laufen, und dann würde sie sich irgendwie bemerkbar machen. Es musste funktionieren!
Es ruckelte, dann schrammte der Deckel langsam, Millimeter für Millimeter, fort und gab den Blick frei auf eine gleiÃende Deckenlampe, eine weiÃe Zimmerdecke. Keine Anzeichen auf Fenster oder Geräusche von auÃen. Jetzt war Thomas zu sehen. Er beobachtete sie wie ein Biologe ein Insekt unter dem Mikroskop, ernst, konzentriert, ohne eine Spur von Wärme oder Mitleid.
»Durst?«
Sie schloss und öffnete die Augen.
»Hunger?«
Sie schloss und öffnete die Augen.
»Toilette?«
Sie schloss und öffnete die Augen.
»Willst du raus?«
Sie schloss und öffnete die Augen.
»Reden?«
»Mmmm, mmmm.« Alles, was er nur wollte. Er wusste doch ohnehin alles. Wenn er ihr nur den Knebel entfernte und sie herumlaufen lieÃ! Dann würde sie ihre FüÃe und Hände schon gebrauchen. Es würde schnell gehen. Ein, zwei Hiebe, und er wäre kampfunfähig. Das konnte sie. Das hatte sie bis zur
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