Im Dunkel der Schuld
hoch, was ihr ungewohnt schwerfiel, es kam ihr vor, als drücke ihr eine Zentnerlast auf die Schultern und die weichen Knie. Das lag bestimmt an der ungewohnten Umgebung, zu der man als Lebender ja kaum einmal Zutritt hatte. Sie war erleichtert, als sich oben vor ihr wirklich nur ein groÃer Lagerraum erstreckte, in dem Dutzende Särge aus unterschiedlichen Holzarten standen.
Es war nur ein Lager, versuchte sie sich einzureden, und fuhr sich vorsichtshalber über die Haare. Diese Särge sahen aus wie Truhen.
Sie machte einen neuen Versuch und klopfte auf ihre Armbanduhr. »Sollten wir nicht langsam ins Kino gehen?«
»Kino«, wiederholte er mit einem merkwürdigen Unterton.
Ebba spürte das vertraute Kribbeln auf der Kopfhaut und strich sich erneut die Haare glatt. Dabei schwankte sie leicht, als habe sich schon wieder der Boden unter ihr bewegt.
»Kino«, wiederholte Thomas. »Ich zeig dir den Versorgungsraum. Ich will, dass du siehst, was ich als Kind habe durchmachen müssen.«
Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. Ebba wand sich, aber er lieà nicht los, sondern zog sie mit einem leisen Lachen weiter, einen langen Gang entlang. Sein Griff wurde immer fester.
»Lass mich!«, rief sie.
»Oh, entschuldige, das wollte ich nicht«, antwortete er. »Wir sind schon da.«
Er lieà ihre Hand los und stieà eine Stahltür auf, und Ebba prallte auf der Schwelle zurück.
»Da geh ich nicht rein!«, sagte sie entsetzt.
Thomas lachte und packte sie am Arm, sodass sie sich sehr beherrschen musste, um nicht ihrem ersten Impuls nachzugeben: Schlag, Drehung, Schulterwurf. Aber das wäre wohl übertrieben. Wahrscheinlich brachen gerade alle Kindheitserinnerungen in Thomas auf, so wie es ihr selbst einen Schlag in die Magengrube versetzt hatte, als sie eben im Sarglager all die Truhen vor sich sah. Wenn sie mitspielte, war sie wahrscheinlich am schnellsten wieder drauÃen. Und dann würde sie darauf bestehen, dass er sie sofort nach Baden-Baden fuhr.
»Da geh ich nicht rein«, wiederholte Tom ihre Worte, und es klang irgendwie gemein. »Das habe ich früher auch gesagt. Tausendmal, aber es hat nie geholfen. Nun komm schon. Danach bist du erlöst, versprochen.«
Der Raum war bis an die Decke gefliest, in der Mitte des Steinbodens befand sich ein Abfluss. In einer Ecke stand neben dem Edelstahlwaschbecken eine gefährlich aussehende Maschine, aus der mehrere Schläuche ragten, davor ein länglicher Metalltisch, ebenfalls mit Ablauf. Von der Decke hingen mehrere Gurte, und neben einem offenen Metallschrank, in dem Kittel, Gummistiefel und Gummihandschuhe aufbewahrt wurden, stand ein weiterer Tisch, auf dem eine Spritze lag.
Thomas schnalzte mit der Zunge. »Nachlässig«, murmelte er und nahm die Spritze auf.
»Hier werden unsere Kunden zurechtgemacht. Sie werden gereinigt, desinfiziert, wir waschen ihnen die Haare, verschlieÃen ihre Wunden, tauschen das Blut gegen Formalin zum Konservieren aus. Willst du wissen, wie wir ihnen den Kiefer fixieren?«
Ebba schüttelte heftig den Kopf. »Ich will gar nichts wissen. Ich will hier raus. Mir ist übel.«
Sie drehte sich zur Tür, aber Thomas stand ihr im Weg. »Man nimmt eine groÃe Nadel und einen Faden, dann sticht man ihnen durch den Gaumen und die Nasenscheidewand. Und wenn die Augen eingefallen sind, hebt man die Lider hoch und zieht eine Kappe über den ausgelaufenen Augapfel â¦Â«
»Aufhören«, stöhnte Ebba. Alles um sie herum drehte sich, sie hielt sich die Ohren zu und wollte sich abwenden, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung sah.
Was machte Thomas da?
Blitzschnell wollte sie reagieren. Gegnerische Hand packen, Viertelschrittdrehung nach auÃen, AuÃensichel, Kipphandhebel â¦
Aber es gelang ihr nicht. Ihre Arme gehorchten ihr nicht.
»DaswarkeinBitterLemon!«, brachte sie heraus, und es klang, als sei sie volltrunken.
»Schlaf gut, du Kampfsportlerin«, hörte sie Thomas noch sagen, dann spürte sie einen Einstich, und im selben Moment tauchte sie ab, als habe jemand in ihrem Innern einen Schalter umgelegt.
Zweiundvierzig
Was war das?
Ebba zuckte zusammen. Sie hatte etwas gehört, etwas Unheimliches. Sie riss die Augen auf, aber sie sah nichts. Absolut nichts. War sie blind? Ruhig, ruhig.
Sie lieà die Augen offen, damit sie sich an die Dunkelheit gewöhnten. Es gab keine absolute Schwärze, das
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