Im Dunkel der Schuld
Schwester lief etwas schrecklich schief, doch sie wollte sich nicht helfen lassen. Genau wie früher bei den Quälereien durch ihren Vater. Wie oft hatte sie ihrer Schwester damals gesagt, sie solle sich einfach Brunos Befehlen widersetzen. Es gab keinen Grund, auf Bäume, Fenstersimse und Balkongitter zu klettern, nur weil er es wollte oder im Fall des Ungehorsams ihren Geschwistern Leid androhte. Sie hatten sich untereinander verständigt, dass sie aufeinander keine Rücksicht nehmen sollten. Nur so könnten sie seine Spirale unterbrechen. Doch Rosie hatte einfach nicht mitgemacht. Sie hatte immer getan, was man ihr sagte, weil sie das liebe Mädchen hatte sein wollen.
Ebba wurde es eiskalt, sie konnte den Verdacht, der immer noch an ihr klebte, nicht abschütteln. »Ich hab dich das schon einmal gefragt: Ist dein Arzt dagegen, dass wir uns sehen? Befiehlt er dir irgendetwas? Du musst mir von ihm erzählen, Rosie. Er ist nicht gut für dich. Nenn mir wenigstens seinen Namen, für den Fall, dass er dir etwas antut.«
»Du liest zu viele Krimis, Ebba. Es gibt niemanden. Es ist a-alles in O-ordnung. Und nun lass uns schlafen. Es ist spät. Ich hoffe, nächste Woche wird mein Anschluss repariert, damit du beruhigt sein kannst. Aber bitte keine Kontrollanrufe. Ich bin erwachsen, Ebba. Ich sitze nicht neben dem Telefon und warte. Ich gehe auch mal ins Kino oder besuche eine Freundin oder gehe mit einer Kundin aus.«
»Das ist ja etwas ganz Neues.«
»Entschuldige bitte, aber â¦Â« Wieder dieses Rascheln von Papier, dann räusperte sich Rosie und holte hörbar Luft. »Ich â bin â dir â keine â Rechenschaft â schuldig.«
Es hörte sich so an, als würde Rosie die Worte ablesen.
Ihre Stimme klang verändert, wie im Traum, als sie fortfuhr: »Seit Jahren predigst du mir, dass ich Nein sagen soll. Jetzt tue ich es, und das ist auch wieder falsch. So hilfst du mir nicht.«
»Aber â¦Â«
»Lass mich einfach in Ruhe, ja? Hör bitte auf, mich zu kontrollieren. Ich komme allein zurecht, wenn du mich endlich lässt. Du kannst manchmal so dominant sein. Das tut mir nicht gut.«
War das Rosie? Es war zwar ihr Stimme, aber die Sätze klangen einstudiert.
»Bist du irgendwie in Behandlung?«
»Jetzt gehst du zu weit. Respektiere bitte, dass ich mein eigenes Leben führen möchte. Lass mich los, Ebba. Es ist besser für uns beide. Ruf mich bitte in der nächsten Zeit nicht an. Ich werde mich wieder bei dir melden, das verspreche ich dir. Aber ich werde es tun, wenn ich es will, und nicht, weil du es erwartest.«
Einundzwanzig
Rosenmontag, 7. März 2011
WeiÃ, weiÃ, alles weiÃ. Schnee, wohin man blickte. Er fiel in Kaskaden aus dem weiÃen Himmel und türmte sich auf dem Boden und den Eisschollen der Schlei. Alles drehte sich wie ein Karussell, schneller noch. Der Wirbel drauÃen in der Luft setzte sich in diesem Raum und in ihrem Kopf fort. Ein Schwindel, schön und furchterregend zugleich. Man konnte leicht den Boden unter den FüÃen verlieren, wenn man sich ihm hingab, das hatte sie in letzter Zeit öfter erlebt, aber er hatte sie stets rechtzeitig fortgezogen, hatte sie gerettet, beruhigt, liebevoll auf sie eingeflüstert, festgehalten, gewärmt, aufgerichtet, ihr Mut zugesprochen, sie geliebt, an Ort und Stelle, zärtlich zumeist, so, wie sie es am liebsten hatte. Danach hatte er sie in seinen Armen gewiegt wie ein kleines Mädchen, und genauso war sie sich dann vorgekommen, so, wie sie immer hatte sein wollen: ein geliebtes kleines Mädchen, das gewärmt und beschützt wurde.
Heute war er noch nicht da. Sie hatten sich wieder in der schrecklichen Wohnung hoch über allem verabredet. Sonst war er meist schon da gewesen, wenn sie ankam, deshalb war es nie schlimm, diese Räume zu betreten. Sie schaffte es inzwischen, auf den Balkon zu gehen, wenn er dicht hinter ihr war und ihr seine Anweisungen ins Ohr murmelte. Dann gab es keine Angst, kein Ziehen im Bauch, keinen Schwindel, der beim Anblick der Tiefe einsetzte, keinen Zwang, nach vorn zu kippen, hinunter, tief hinunter. Ein paarmal hatte sie sogar das Balkongeländer berühren können, gespürt, wie kalt und glatt es war, sie hatte die Finger um das Metall gelegt, dann losgelassen, die Handflächen langsam über den Holm nach auÃen gleiten lassen, hinunter zur Glasfläche, die den Balkon
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