Im Dunkel der Schuld
gleiten. Es ist nur eine Metallstange, du brauchst keine Angst vor ihr zu haben. Und jetzt beug deinen Oberkörper vor. Noch weiter. Ja, ich spüre, dass du Angst hast. Ich bin hinter dir. Soll ich dich halten? Nein? Bist du schon so fortgeschritten, dass es allein geht? Und nun auf die Zehenspitzen, noch weiter nach vorn beugen. Schau hinunter in den Schnee. Was siehst du? Siehst du etwas? Löse die Arme von der Glaswand. Streck sie weit nach vorn aus, als ob du fliegen könntest. Doch, du kannst es. Ganz ruhig. Gleich ist es vorbei, gleich hast du es geschafft. Nicht schreien, mein Mädchen. Bleib ganz ruhig. Entspann dich, wie wir das gelernt haben. Mach die Augen zu. Spür in dich. Fühlst du meine Hand an deinem Rücken? Sie ist ganz leicht, nicht wahr? Keine Sorge, ich werde dich halten. Wie immer. Gleich wirst du das Gefühl haben zu fliegen, und du wirst dich fragen, warum du dein Leben lang davor Angst gehabt hast. Nur noch eine ganz kleine Bewegung und â¦Â«
»Jetzt stürz dich doch endlich ins Getümmel! Im Karneval ist man frei wie ein Vogel! Sei kein Frosch.«
Frosch war gut. Ebba blickte an sich hinunter. Wie hatte sie sich nur zu diesem Blödsinn überreden lassen? Ebba Seidel als Pippi Langstrumpf im Kölner Karneval â war sie denn verrückt geworden? Michael Maurer, mit dem sie sich inzwischen duzte, hatte ihr seit Wochen in den Ohren gelegen, ihn zum Rosenmontagsball zu begleiten, den ein angesehener Kunstsammler alljährlich ausrichtete. Es war eine Ehre, eingeladen zu werden, und Maurer witterte ein Geschäft, das er gemeinsam mit ihr abwickeln wollte.
»Kaufmann will sich von seinen Picasso-Lithografien trennen. Das ist eine todsichere Information, Ebba. Hast du nicht selbst gesagt, dass du einen Kunden hast, der verrückt danach ist? Du erhältst das beste Stück, ohne Provision, wenn du zum Ball mitkommst. Ohne Begleitung wird man nicht eingelassen. Tu mir den Gefallen. Es ist rein geschäftlich.« So hatte Maurer sie schlieÃlich zu diesem Wahnsinn überredet.
Bis jetzt hatte sie den Gastgeber nicht zu Gesicht bekommen. Er konnte jeder sein, vielleicht der Scheich an der Bar, der Bischof, der Eulenspiegel ⦠Wirklich edle Kostüme und nicht solch ein Ramsch wie der, den sie trug. Die Kopfhaut unter der Perücke juckte, die Kunstfasern des T-Shirts waren bereits schweiÃgetränkt, sie fühlte sich extrem unwohl. Nicht mal das Kölsch half, Hemmungen abzubauen â im Gegenteil, je weiter die Party fortschritt, desto nüchterner wurde sie, und desto mehr schämte sie sich.
Maurer ergriff ihren Arm und zog sie auf die Tanzfläche. »Das macht SpaÃ!«, schrie er gegen den Lärm der Kapelle an, die ein grausiges Schunkellied intonierte, und der Alkoholdunst aus seinem Mund brachte Ebba zum Würgen.
Sie blieb stehen und horchte erschrocken in sich hinein. Da war dieses Brummen schon, und das Herz begann ihr bis in den Hals zu klopfen, während sie die Vorstellung niederkämpfte, ihr Vater stünde vor ihr. Eine Panikattacke. Das musste verhindert werden.
Gezwungen lächelnd befreite sie sich aus Maurers Griff und begann, sich durch das Gewühl zu arbeiten, irgendwohin, wo man Ruhe hatte. Gar nicht so leicht. Die Villa Kaufmann war riesig, überall wimmelte es vor Menschen mit roten Gesichtern, soweit man das überhaupt unter der Schminke erkennen konnte. Gläser wurden geleert, gingen zu Bruch. Schrilles Gelächter folgte Ebba, während sie den Ausgang suchte.
Irgendwann gelang es ihr, auf eine Terrasse zu treten, die in blauen Dunst eingenebelt war. Alkoholisierte Narren, die in der Kälte an ihren Zigaretten zogen. Sie fand eine Treppe, die in den schneebedeckten Garten führte, und lief ein paar Schritte über den Rasen. Zum ersten Mal war sie froh über ihr Kostüm, zu dem neben den Ringelstrümpfen feste Schnürstiefel gehörten.
Sie stapfte tiefer in den Garten. Lächerlich war das alles! Wieso sollten ausgerechnet ein Clown und eine Pippi Langstrumpf den Zuschlag für kostbare Lithografien bekommen? Lä-cher-lich!
Sie wollte in ihr Hotelzimmer, so schnell wie möglich, und es war ihr herzlich egal, ob Maurer den Picasso-Deal dadurch verlor oder nicht. Kein Bild auf der Erde war es wert, dass man sich zum Narren machte.
»Sie sind Ebba Seidel, die Galeristin aus Baden-Baden, nicht wahr?«
Ein hochgewachsener Salvadore Dalà verbeugte
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