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Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Titel: Im Dunkeln sind alle Wölfe grau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Fenstern hatte sich verändert. Die Perspektive stimmte nicht, sie zeigte ein merkwürdiges Mißverhältnis: die Häuser am Fjellhang waren plötzlich größer, als auf Bryggen, und es lag ein komischer Rotton über allem, als ginge gerade die Sonne unter, oder wie der Feuerschein eines ausbrechenden Vulkans. Draußen auf Bryggen husteten die Autos Blut.
Ich blieb sitzen und starrte aus dem Fenster, bis das Tageslicht anschwoll und über mich hereinbrach. Die Röte verschwand und alles wurde weiß. Ich legte den Kopf auf den Schreibtisch und wurde wach, als das Telefon klingelte.
Ich hob den Hörer ab und lauschte, ohne etwas zu sagen. Es tickte von irgendwo aus einer Telefonzelle.
Wir verharrten stumm, an beiden Enden der Leitung. Dann ertönte eine metallische Mikrofonstimme im Hintergrund: »Flight 92 …« Der Hörer wurde schnell aufgelegt.
Ich nickte langsam. Das war Carsten Wiig; er war auf Fiesland und wollte kontrollieren, ob ich noch am Leben war. Sie wollten nicht noch einen ›Unfall‹ auf dem Gewissen haben. Sie wollten in jedem Fall nicht mehr Aufsehen als sie schon verursacht hatten.
Ich hatte die Botschaft verstanden. Hätten sie mich gern tot gesehen, dann hätten sie den Mann mit der Pudelmütze allein geschickt. Ich hatte ihn nie vorher gesehen und hätte wetten mögen, daß er aus dem Osloer Milieu rekrutiert war. Carsten Wiig war selbst mitgekommen, um sich zu versichern, daß ich nicht schlimmer angeschlagen war, als sie vorgesehen hatten. Er konnte Hagbart Helle mit Zufriedenheit Bericht erstatten.
Aber die Frage, die mir blieb, war: bedeutete das, daß sie wirklich etwas zu verbergen hatte, jetzt noch, 28 Jahre später? Oder etwas, was vor Kurzem geschehen war, vor nicht mehr als einem knappen Monat, in einer Wohnung in der Skottegate? Ganz zu schweigen vom Montag dieser Woche. – Oder war es nur eine Demonstration ihrer Macht?
Ein paar Stunden waren vergangen, und der Schlaf über meinem Schreibtisch hatte mir gutgetan. Draußen war die Perspektive wieder normal. Ich hatte Kraft genug, mich hinunterzubeugen, die Flasche und das Glas aus der untersten Schublade zu holen und mir einen klaren, hellen Aquavit einzuschenken.
Ich nippte vorsichtig am Glas. Die Wärme breitete sich langsam aus, wie Öl auf Wasser.
Ich ließ die Schultern kreisen. Die Nackenpartie tat noch weh, und der Oberarm fühlte sich steif an. In meiner Schläfe hämmerte es und ein dumpfer Schmerz pochte irgendwo in der Magenregion. Aber ich fühlte mich besser als seit vielen Stunden. Und ich hatte wieder angefangen zu denken.
Ich blieb mit dem Glas in der Hand sitzen. Der Tag stolperte weiter, auf unsicheren Krücken, durch mich hindurch. Es gehört nicht viel dazu, einen in den Graben zu fahren. Ich hätte lieber auf Bräune setzen sollen. Ein kleines Sonnenstudio, kein Privatdetektivbüro.
Gegen halb vier hörte ich, daß die Tür zu meinem Wartezimmer ging. Die Tür wurde wieder verschlossen und leichte, weibliche Schritte durchquerten den Raum, bis sie in der Türöffnung erschien.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich sie wiedererkannte. Doch dann schob ich das Aquavitglas zur Seite, als gehörte es ganz und gar nicht dorthin und sagte: »Das ist aber eine Überraschung.« Aber ich war geistesgegenwärtig genug, aufzustehen, während ich das sagte.
Es war die Zahnarzthelferin aus der Praxis nebenan. Sie trug einen türkisfarbenen Mantel, errötete wie ein Sonnenuntergang und wußte nicht recht, wo sie ihre Hände lassen sollte. Sie war sehr jung. Es schien, als brächte sie zur selben Zeit Dämmerung und Sonnenschein in mein Zimmer.
Ich erhob mich und ging um den Schreibtisch herum, noch immer eine Spur unsicher auf den Beinen.
Sie sagte: »Du hast gesagt – ich sollte kommen und mir – die Aussicht ansehen.« Sie sah etwas schräg zur mir auf. Als ich zu nah kam, trat sie zur Seite und ging schnell zum Fenster. »Aham«, sagte sie.
Ich blieb mitten im Raum stehen. »Und was bedeutet ,Aham’?«
Sie lachte. »Das bedeutet – dieselbe Aussicht wie drüben bei uns.«
»Hattest du eigentlich etwas anderes erwartet?«
»Du hast gesagt …« Sie unterbrach sich selbst und sah auf mein Glas hinunter. »Was ist das denn?«
Ich lächelte schwach. »Es sieht aus wie Wasser.«
Mißtrauisch sah sie mich an. Das Nachmittagslicht machte ihre Gesichtszüge noch weicher und ließ mich an eine andere Frau denken, die einmal dort am Fenster gestanden hatte. Sie hatte noch immer rote Wangen, und die Augen waren dunkel, die Brauen

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