Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
Nesttun. Im Zentrum lag das alte Postgebäude aus rotem Ziegelstein zur Allerhelgensgate hin, direkt gegenüber der schmutziggrünen, alten Polizeiwache, und die Bebauung nach Süden erstreckte sich nicht weiter als zu den Baracken in Landås. Wenn im Stadion ein Fußballspiel stattfand, standen nicht in der gesamten Umgebung geparkte Autos, sondern es war der reinste Pilgerzug in Richtung Zentrum, wenn das Spiel zuende war, und die Straßenbahnen sahen aus, als wären sie von kolossalen Bienenschwärmen angegriffen worden: sogar draußen hingen die Leute. Und mein Vater würde noch ein paar Jahre Straßenbahnfahrer sein. In Nordnes gab es noch immer große Brandplätze aus dem Krieg, ich war elf Jahre alt und ohne Sorgen. Hjalmar Nymark hingegen war 42 und auf der Höhe seiner Kraft, Konrad Fanebust an der Spitze seiner Karriere, jedenfalls als Politiker; Elise Blom war 21 Jahre alt, vor Jugend strotzend, noch voller Erwartungen an das Leben; Holger Karlsen war 3 5 und stolzer Vater eines vierjährigen Mädchens, seine Frau glücklich und Hagbart Hellebust war ein effektiver und tatkräftiger 45jähriger. Alle waren sie anders gewesen, 1953, in einer kleineren Stadt. Einige hatten schon damals eine Katastrophe erlebt, andere hatten gewartet, 28 Jahre lang. Sogar der unschuldige kleine Elfjährige aus Nordnes war auf merkwürdige Weise in diese Tragödie hineingezogen worden. Und Bergen würde nie wieder dieselbe Stadt werden, die es 1953 war.
Von Nordnes bis Sandviken, von Fjøsanger bis Nøstet: überall kreuzten sich die Spuren, wie die umherstreifender Tiere auf einem endlosen Hochplateau. Aber einige hatten sich vor mehr als einem halben Jahrhundert gekreuzt, andere erst vor ein paar Tagen. Die allermeisten Spuren waren kalt, aber einigen wenigen konnte man noch folgen …
Unten in Nøstet gibt es ein kleines Lokal. Es gehört zu den ersten, die morgens öffnen. Dort kehrte ich gegen Morgen ein und sammelte mich über einer Tasse kochend heißem, pechschwarzem Kaffee, in Gesellschaft einer Handvoll anderer Wölfe der Nacht.
Sie hatten markante Gesichtszüge. Wir saßen über die Tassen gebeugt, stumm wie die Nacht, die hinter uns lag, verschlossen wie der Morgen, der uns umgab. Die meisten von uns sollten zur Arbeit, aber einige hatten auch kein Ziel. In der halben Stunde zwischen sieben und halb acht bildeten wir eine Art Gemeinschaft, ausgesetzt in dem Leerraum zwischen durchwachter Nacht und Arbeitstag.
Danach war die Verzauberung vorbei und die Tassen waren leer. Ein schmaler Rand von Kaffeeresten lag noch auf dem Grund, und wir standen auf und gingen mit gebeugtem Nacken aus der Tür.
Draußen war die Stadt voll von Lärm. Der Tag hatte uns wieder eingeholt.
39
Ich ging nach Hause in meine winzige Wohnung, stahl ein paar Stunden des Tages, auf dem Sofa ausgestreckt, duschte lange und fühlte mich gerade frisch genug, um zu spüren, daß ich deprimiert war. Hunde, die 28 Jahre lang begraben waren, lagen gut versteckt, oder sie waren in völlige Auflösung übergegangen. Es war nicht viel zu finden.
Auf dem Weg zum Büro kaufte ich die Zeitungen. Als ich aufschloß, hörte ich, daß das Telefon klingelte, aber es hörte auf, bevor ich es erreicht hatte, und als ich den Hörer ans Ohr hob, war da nichts weiter, als mein ältester und treuester Gesprächspartner: der Summton.
Ich schlug eine der Zeitungen vor mir auf und ließ den Blick über die erste Seite wandern. Ganz unten rechts fand ich einen Zweispalter mit der Überschrift: Mysteriöser Todesfall in Sandviken. Aus dem Text ging hervor, daß eine 58 Jahre alte Frau spät am Montagabend tot in ihrer Wohnung in Sandviken aufgefunden worden’ war, und in bezug auf die Todesursache noch immer einige ›Unklarheiten‹ bestanden. Vieles deutete darauf hin, daß es sich um einen Unglücksfall handelte, aber trotzdem suchte die Polizei als Zeugen ›einen Mann, wahrscheinlich in den 50ern, bekleidet mit einem grauen Mantel und dunklem Hut, der leicht auf dem einen Bein hinkte‹. Der Mann selbst, oder Personen, die ihn gesehen hatten, wurden gebeten, sich so schnell wie möglich bei der Polizei zu melden. Darüber hinaus hatte die Polizei der Presse nichts Konkretes mitzuteilen.
Ich durchblätterte schnell die anderen Zeitungen. Mehr war auch dort nicht zu finden. Die Zeitungen aus Oslo waren noch nicht gekommen: sie waren gewöhnlich phantasievoller, aber alles in allem nicht ausführlicher. Das meiste, das von dem Fall bekannt war, stand sicher
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