Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
erinnern sich. Haben Sie jemals versucht, ihn zu finden?«
»Ich? Das überließ ich doch wohl der Polizei. Was meinen Sie, hätte ich tun sollen? Einen Privatdetektiv engagieren?«
»Tja …«
»Leute verschwinden, Veum. Wenn man älter wird, dann werden es weniger. Einige sterben, andere ziehen in andere Städte, andere Länder, gleiten aus dem Milieu und sind weg. Andere verschwinden ganz einfach nur. Vielleicht wohnen sie weiterhin hier, in derselben Stadt wie du, aber du siehst sie nie mehr. Es kann Zufall sein, Schicksal, was weiß ich. Wenn ich jetzt an mein Leben zurückdenke: wie viele meiner Freunde sind mir noch geblieben? Wie viele der Kampfgenossen sind noch übrig? Du solltest bedenken – wir haben einige Jahre unter starkem Druck gelebt, und das hat seine Spuren hinterlassen. Viele von uns sind zu früh gestorben.«
»Aber Johan Olsens Verschwinden war trotzdem anders, oder nicht?«
»Stimmt«, sagte er abrupt. »Vielleicht«, setzte er schnell hinzu.
»Stimmt – vielleicht?« wiederholte ich, langsam und fragend.
Konrad Fanebust saß aufrecht hinter dem Schreibtisch: schmal und mager. Das Gesicht war knochig, das Haarweiß. Erwirkte wie das Skelett einer Skulptur, die noch kein Fleisch und noch keine Konturen bekommen hat. Seine Augen blickten blind und nachdenklich. Dann war er auf einmal wieder zurück im Büro. »Na. Warum bringen Sie aber nun Olsen ins Bild, Veum?«
Ich sagte: »Es gab einen Todesfall, draußen in Sandviken, Montagabend. Sie haben es sicher in der Zeitung gelesen.«
Er nickte langsam.
»Eine Frau wurde tot aufgefunden. Olga Sørensen. Das war Johan Olsens Freundin, die Frau, mit der er zusammenlebte. An dem Abend, als sie starb, wurde vor dem Haus, in dem sie wohnte, ein Mann gesehen. Der Mann hinkte.«
Er beobachtete mich angespannt und wachsam. »Sie meinen doch nicht … Sollte das bedeuten, daß …«
Ich wartete auf eine Fortsetzung, aber sie kam nicht. Dann sagte ich:
»Was ist damals eigentlich mit Johan Olsen passiert, 1971?«
»Er …« Er biß sich auf die Zunge.
»Ja?«
Konrad Fanebust betrachtete mich eingehend. Sein Blick glitt über mich, meine Taschen, die Knöpfe, bis hinunter zu den Schuhen und wieder hinauf. Dann legte er die Hände flach gegen die Schreibtischplatte, beugte sich ein wenig vor und sagte mit weicher Stimme: »Er verließ das Land. Und ich half ihm.«
»So?« Ich wartete.
»Ja. Ich kam wirklich in einer besonderen Angelegenheit, damals, im Januar. Er war bei mir gewesen, aus Verzweiflung über seine Lebenssituation, um es ein wenig feierlich zu formulieren. Er fühlte sich vom Alkohol durchsäuert, in eine kümmerliche Liebesbeziehung hinabgezogen, als Teil eines ärmlichen und deprimierenden Milieus. Er wollte raus – weg – von allem. Und er wollte alle Verbindungen abbrechen. Sie sollte nichts erfahren, diese Frau da, niemand. Und er kam zu mir und bat um Hilfe. Ein alter Kriegskamerad … Ich konnte nicht nein sagen.«
»Nein?«
»Nein! Ich hatte Beziehungen, in andere Länder. Spanien, Portugal, es gab genug Orte. Also half ich ihm – außer Landes, verschaffte ihm ein Ticket, jemanden, der ihn da, wo er hinkam, abholte und genug Geld, um sich die erste Zeit über Wasser zu halten.«
»Ein Darlehen?«
»Nenn es lieber Schulden. Ehrenschulden. Ich war es ihm schuldig. Ich war auf der Sonnenseite gelandet, während er im Schatten leben mußte, irgendwo ganz unten.«
»Und später?«
»Was später?«
»Na, ihr habt den Kontakt doch wohl aufrechterhalten?«
»Nein – das war die Voraussetzung. Von seiner Seite. Alle Verbindungen sollten abgebrochen werden. Er war für immer fertig mit Norwegen.«
»Fast, als wäre er tot?«
»Ja. Und das dachten die Leute ja auch. Der Zweck war also erfüllt.«
»Und das taten Sie – unentgeltlich?«
»Wie gesagt. Was hätte er mir geben können – als Entgelt?«
Ich hielt seinen Blick in meinem. Wir starrten einander an. Es zuckte fast unmerklich in seinem Augenwinkel, und ich fühlte meine Augen schmal werden.
Ich durchbrach die Stille: »Stauer-Johan hatte Verbindungen im Hafenmilieu. Er hätte sich einen Schlüssel besorgen können für das Tor da draußen, in Nordnes.«
»Wo in Nordnes?«
»Da, wo Harald Wulff erschlagen wurde. Und die Spuren im Schnee deuteten darauf hin, daß sie mindestens zu zweit gewesen sind dabei.«
Da blickten seine Augen starr und hart und sein Mund wurde wie ein straffes, graues Trampolin. Die Worte kamen wie schnelle, kleine Akrobaten: »Na gut. Und was weiter? War es etwa
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