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Im Dutzend vielfältiger

Im Dutzend vielfältiger

Titel: Im Dutzend vielfältiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Rensmann
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und griff zum Stift. Bevor er zu zeichnen begann, ließ er sich von seinem Atelier inspirieren.
    In der vergangenen Woche hatte Leonardo vergessen, das Fenster zu schließen, der daraufhin einsetzende Regen hatte die obere Reihe der unter dem Fenster aufgestapelten Skizzenbücher aufquellen lassen. Er zuckte mit den Schultern und nahm es mit Wohlwollen anstatt mit Ärger über seine Fehlbarkeit. Ringsherum standen und lagen Gips- und Holzplatten, teils noch jungfräulich, andere nur zur Hälfte bemalt; zerknülltes Papier bedeckte den Boden – so vieles, das er begonnen, nie beendet hatte, und nicht mehr zum Ende bringen sollte.
     
    »Nichts Hohes erreicht ein Künstler, der nicht an sich selber zweifelt.«
     
    Dieser Raum war ausgefüllt mit seiner Kreativität – gelebt auf Papieren, Bildern, Manuskripten, Büchern und Modellen.
    Als er glaubte, alles um sich herum, auch das Vergessene, wie Sauerstoff in sich aufgenommen zu haben, zog er eine Schublade auf und einen goldgerahmten Handspiegel hervor, dessen Verwendung er bis heute als nutzlos erachtet hatte.
    Er starrte sein Ebenbild an und nickte sich zu. Den Spiegel legte er links von sich auf den Tisch und schob dafür ein paar Skizzenbücher so weit zur Seite, dass sie von der Tischkante fielen und zu Boden polterten.
    Doch Leonardo lächelte, drehte sich zu seinem Gemälde um, dem er noch einen Namen geben musste, aber vermutlich nie den passenden finden würde. Dann zeichnete er.
    Sich selbst.
     
    Als er sein Selbstporträt nicht als gelungen, aber als für seinen Zweck brauchbar erachtete, schlief er, den Rest des Tages, die ganze Nacht und den nachfolgenden Tag, bis der Vollmond ins Zimmer leuchtete.
    Leonardo wusste, diese Nacht würde es sich entscheiden. Vorher stärkte er sich an einer reichhaltigen Mahlzeit.
    Sein Herz raste im Rhythmus seines Pulses – oh, er liebte dieses Gefühl der schlagenden Einheit, die durch seinen Körper pochte.
    Noch einmal blickte er in den Spiegel. Er lächelte wieder. Verschmitzt, spitzbübisch, heiter und glücklich, doch auch voller Schmerz und Sehnsucht. Sein Gesicht erschreckte und faszinierte ihn gleichermaßen.
    Diesen Zwiespalt wollte er in sein Gemälde, seinen innigsten Schatz, sein Werk, einbringen; flossen die Wege und Seen zu Beginn noch einheitlich über das Bild, veränderte er nun den Hintergrund auf der rechten Seite – farblich stimmig, geografisch surreal. Er arbeitete wie im Rausch. Tagelang. Zum Vergleich blickte er auf sein skizziertes Selbstporträt. Das namenlose Bild wurde zu seiner Profession all seiner Kunst. Das Meisterwerk.
     
    »Das Schöne, das sterblich ist, vergeht, aber nicht das Kunstwerk.«
     
    Für die Menschheit sollte dieses Bild ein Rätsel und sein geheimnisvolles Vermächtnis sein. Nie würde er es aus den Händen geben und es bis zu seinem Tod bei sich tragen. Jeder glaubte, er hätte Lisa del Giocondo porträtiert, doch vor seinen eigenen Augen sah er sie: seine Mutter.
    Auf ihrem Herzen ließ er einen Sonnenstrahl erscheinen. Dort, hoffte er, einen Platz als ihr Sohn innegehabt zu haben.

     

Winterspaziergang
    (2002)
     
    Meine Augen brannten. Die Buchstaben tanzten. Zu viel und zu lange hatte ich auf den Bildschirm geschaut. Geschrieben, gelöscht, wieder geschrieben. Mein Rücken fühlte sich steif an und mein Nacken schmerzte. Die ersten Sonnenstrahlen im neuen Jahr winkten durchs Fenster und lockten mich nach draußen.
    Die Menschenmassen, die drei Monate vor Jahresende aus ihren Bunkern geströmt waren, um rechtzeitig alle Einkäufe vor Weihnachten zu erledigen und ihre Jahresvorräte aufzufüllen, waren wieder von den Straßen verschwunden. Wo immer sie nun auch den Rest des Jahres verbrachten, es war ruhiger in den Einkaufszentren und den Kaufhäusern. Ich hasste diese Zeit, ich hasste Menschen – zumindest wenn zu viele aufeinander trafen. Jetzt könnte ich es wagen.
    Frische Luft schadete nicht, wird behauptet. Ich klappte den Laptop zu. Mein Schreibtischsessel ächzte dankbar, als ich mich daraus erhob.
    Schnell die dicken Stiefel anziehen, Mantel und Schal überstreifen, bevor ich es mir wieder anders überlegte und mir der innere Schweinehund in den Nacken sprang und mich zurückhielt.
    Tür auf. Raus. In die kalte Winterluft.
    Ich nahm einen tiefen Atemzug, die Lunge war befriedigt. Ich könnte wieder zurückgehen, aber ich gab mir einen Ruck. Vielleicht sollte ich mir einen Hund anschaffen, der mir täglich bei jedem Wetter meine Faulheit austrieb. Ich

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