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Im Dutzend vielfältiger

Im Dutzend vielfältiger

Titel: Im Dutzend vielfältiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Rensmann
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hatte, denn als uneheliches Kind durfte er keine Schule besuchen. Hätte sein Vater Leonardos Talent nicht erkannt, säße er heute nicht hier in diesem Atelier und dürfte auch nicht die Frau eines reichen Mannes malen.
     
    Er führte Lisa zu einem Stuhl, Anweisungen benötigte sie nicht. Zwischen ihnen herrschte ein stilles Übereinkommen, beinahe wie das blinde Verstehen zweier Liebender. Mit dem linken Arm stützte sich Lisa auf die Lehne und legte die rechte Hand über das linke Handgelenk. Sie saß perfekt. Noch eine Weile betrachtete er die junge Frau – die Mutter – und wie so oft verliebte er sich in sein Modell, das, ohne es selbst zu wollen oder zu wissen, sich zu seiner Muse entwickelte.
    Seine tiefe Zuneigung endete, sobald er den Auftrag beendet hatte.
    Leonardo führte den ersten Pinselstrich aus.
     
    Unzählige würden folgen, an diesem Tag und noch viele Wochen, Monate und Jahre darauf. Meist ließ sich Leonardo dabei von Musik inspirieren. Seine anfängliche Verliebtheit verwandelte sich in Besessenheit, wie sie ihn bei keinem Gemälde je zuvor überfallen hatte. Er arbeitete ununterbrochen daran, auch des Nachts.
    Mehr und mehr stellte er fest, dass das Porträt Lisa nur noch in Teilen glich. So konnte er das Gemälde keinesfalls abliefern. Lisas Gatten und somit seinem Kunden Francesco del Giocondo gab er vor, einen anderen Auftrag vorrangig behandeln zu müssen. Er sagte Termine mit Lisa ab und hoffte darauf, dass Francesco del Giocondo den Auftrag vergessen mochte.
    Wiederholt korrigierte er das Porträt, doch die Frau auf dem Bild hatte ihren eigenen Willen.
    Noch schien Leonardo nicht zur Fertigstellung des Gemäldes bereit. Viele seiner Werke stapelten sich unvollendet, doch dieses hier ließ ihn nicht los. Der Hang zum Perfektionismus brachte ihn fast um den Verstand. Leonardo vergaß den ursprünglichen Antrieb, den Auftrag, das Geld. Und suchte die tiefere Bedeutung, die das Porträt, das Lisa del Giocondo hätte werden sollen, für ihn darstellte. Doch er widerstand dem Drang, weiter daran zu arbeiten, stellte das Porträt fort und verhängte es mit einem Laken, auf dass es ihn nicht mehr belästigen mochte.
    Er musste sich auf den Ratssaal des Palazzo della Signoria konzentrieren, dessen Wände er zusammen mit seinem Konkurrenten Michelangelo bemalen sollte. Doch Leonardo ertappte sich dabei, dass er in den Nächten von dem Porträt träumte, welches Lisa del Giocondos Antlitz zeigen sollte. Nur am Tage gelang es ihm, seine Gedanken davon abzulenken und somit schlief er noch weniger, was an seinem Körper zehrte und ihn früher altern ließ. Er ignorierte seine Gebrechen und stürzte sich in die Suche nach einer neuen Maltechnik, nicht zuletzt – das wusste er – weil seine Gedanken nur darum kreisten, das Porträt der namenlosen Frau zu vollenden.
    Seine Besessenheit raubte ihm die Zeit, an den Wänden des Palazzo zu malen und Michelangelo beendete das angestrebte Werk allein. Doch Leonardo spürte Gleichgültigkeit darüber, seinem Konkurrenten den Auftrag überlassen zu haben.
     
    Als er von einem Besuch von Isabella d’Este zurückkehrte, die ihn darum gebeten hatte, Christus in jungen Jahren zu malen, lauschte er dem Gespräch zweier Bauern, die ihr Vieh durch die Gassen trieben.
    »Sie bewunderte ihn bis zuletzt, liebte ihn«, sagte der eine. »Ein großer Künstler, dieser Leonardo«, antwortete der andere.
    Er wollte sich abwenden, doch eine alte Frau, die einen Holzwagen hinter sich herzog, versperrte ihm den Weg. Und Leonardo hörte die weiteren Worte mit. »So soll es sein. Sie starb in alten Laken, der Sohn ein angesehener Mann. Sehr schade um die Frau.«
    Seine Mutter? Gestorben? Leonardo lehnte sich an eine Hauswand, Schwindel drängte ihn in die Knie, seine Brust schnürte sich zu und er spürte eine Trauer in sich aufsteigen. Tränen rannen an seinen Wangen hinab. Der große Meister weinte. Er weinte um die Frau, die ihn gebar und die gestorben war, ohne dass sie sich jemals kennengelernt hatten. Seine Sehnsucht lag nun in einem ihm unbekannten Grab. Nur schwerfällig stemmte er sich vom kalten Boden auf und kehrte in sein Atelier zurück.
    Mit Schwung zog er das Laken hoch, warf es in eine Ecke und betrachtete das in seinen Augen unfertige Gemälde Lisa del Giocondos. Leonardo wusste nun, was er darin zu sehen hoffte, aber durch den Pinselstrich nicht auszudrücken vermochte.
    Bis jetzt.
    Er setzte sich an seinen mit Papieren und Skizzen übersäten Schreibtisch

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