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Im eigenen Schatten

Im eigenen Schatten

Titel: Im eigenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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ihre Arbeit erledigen. Gerti war das einzige Stück Vieh, von dem vor dem Krieg noch zwölf im Stall gestanden hatten.
    Nach den kargen Worten der Eltern zu schließen, waren die Zeiten härter geworden. Als Südtirol nach dem Ersten Weltkrieg an die Italiener gefallen war, hatten diese ihre Vorstellungen der reinen Rasse in der Viehzucht durchzusetzen versucht und nur noch die Zucht von Pinzgauern und Grauvieh erlaubt. Aber der alte Moser, Gundolfs Vater, war stur geblieben und hatte einige Pustertaler Sprinzen behalten. Trotz des Sizilianers, der in der Carabinieri-Uniform, von einem Adjutanten aus dem Veneto begleitet, die Höfe inspizierte und dabei die Hand aufhielt. Kein einziges Mal waren sie abgezogen, ohne zwei Käselaibe mitzunehmen. Und nach dem 8. September 1943 schlug der Rassenwahn der Nazis auch bei der Viehzucht durch. Männer mit dem Hakenkreuz an den Ärmeln der Uniformjacken kontrollierten regelmäßig die Höfe all jener, die dageblieben und nicht ins Reich umgesiedelt waren, wie es der Pakt zwischen Hitler und Mussolini vorgesehen hatte.
    Sie machten strenge Zuchtvorschriften; am liebsten hätten sie Kühe in der Gestalt des Deutschen Schäferhunds in den Ställen gesehen. Gundolfs Vater, der ein Bein verloren hatte, war als Kriegsversehrter am Ende nicht einmal mehr für den Volkssturm tauglich gewesen, doch Gerti konnte er retten. Er versteckte sie in einer Hütte im Wald auf der Alm bei Briol; alle anderen Rinder hatten die Nazis abgeholt. Sie gab karge zwölf Liter Milch am Tag. Den Käse, den Gundolfs Mutter dort oben auf langen Brettern zum Reifen auslegte, tauschte der Vater bei Nachbarn oder in der Stadt im Tal gegen Schweinefleisch, Speck, Schmalz und Mehl. Doch wenn Moser an solchen Tagen nach Sonnenuntergang nach Hause kam, war sein Atem schwer von Schnaps und saurem Wein, und sein Blick so leer, als hätte er zuvor seine Seele an einem Kleiderhaken vergessen. Geld legte er nur selten auf den Tisch, die Mutter nahm es sogleich an sich.
     
    Die Augen von Gundolf Moser starrten in zwei verschiedene Richtungen. Das linke war unbeschädigt und freundlich, das andere schien für die Leute, die ihm begegneten, nach rechts oben aus seinem Kopf fliehen zu wollen. Über der Iris lag ein regengrauer Schleier. Der Huftritt der roten Kuh hatte sein Stirnbein zertrümmert, als er gerade auf den Melkschemel steigen wollte, den er hinter Gerti aufgestellt hatte, während er ihren Schwanz anhob.
    Hart war er gegen die Wand des engen Stalls getaumelt und in den Dung auf der Schubkarre gesunken. Lorenz, der Viertälteste, hatte ihn schließlich gefunden, nachdem Gundolf nicht zum Abendbrot erschienen war. Aus vollem Hals schrie er nach der Mutter, die mit den anderen Geschwistern in den Stall gelaufen kam. Mit blutüberströmtem Gesicht und heruntergelassener Hose hatte der ohnmächtige Junge im Mist gelegen. Mit ihren kräftigen Armen hob sie den Kleinen auf und trug ihn in den Hausflur hinaus, wo sie ihn auf eine hölzerne Bank am Fuß der Stiege legte, die zu Küche und Kammern hinaufführte. Mit eiskaltem Wasser hatte sie Gundolf vom gröbsten Dreck gesäubert, sein Gesicht gewaschen. Sie war sogar beruhigt gewesen, als dem Jüngsten trotz des flachen Atems ein Seufzer entfuhr, als sie die Wunde an der zerschmetterten Stirn reinigte. Ihr Sohn lebte – solange er Schmerz spürte, konnte man ihn noch retten. Harti, Jochi, Lorenz und Heimo sollten den alten Lastschlitten aus der Scheune holen, Stroh auf der Holzpritsche auslegen und eine Decke darauf, damit sie den Kleinen über den steilen verschneiten Weg hinunter nach Villanders zum Doktor bringen konnten. Den Schlitten zu bremsen, verlangte die ganze Kraft der Jungs, während die Mutter an der Deichsel ihn zu lenken versuchte. Unten im Dorf war dann auch plötzlich der Vater da. Zwei Knopflöcher seiner Hose standen offen, am Haus des Doktors hätte er mit seiner Krücke beinahe die Tür eingeschlagen.
    Erst am fünften Tag hatte der Arzt erlaubt, dass man den Jungen ins Krankenhaus nach Brixen transportieren durfte. Gundolfs Stirnbein blieb für immer eingedrückt. Eine tiefe Kerbe zog sich vom Ansatz der linken Augenbraue über seine rechte Stirnhälfte. Der Huf hatte ihn wie ein Axthieb erwischt, und sein rechtes Auge sollte für immer in eine andere Richtung blicken. Aber Gundolf lebte. Und als er nach einem Monat wieder auf den Hof kam, musste er den Stall nicht mehr ausmisten, dafür wurde er mit dem anbrechenden Frühling wieder zur Schule

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