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Im eigenen Schatten

Im eigenen Schatten

Titel: Im eigenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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Boulevardzeitung, die in der Tasche an der Rücklehne des Vordersitzes steckte. Er tastete nach dem dicken Briefumschlag und war einen Augenblick erleichtert. Doch dann durchsuchte er aufgeregt Hosen- und Jackentaschen und konnte sich nur mit Mühe zur Ruhe zwingen. Wo zum Teufel war sein Personalausweis? Die Hände unter der Zeitung verborgen, blätterte er heimlich die Geldscheine durch. Nochmals durchsuchte er jede einzelne Tasche. Nichts. Fieberhaft versuchte er sich zu erinnern, wann er das Dokument zuletzt in Händen gehalten hatte: beim Verlassen der Abflughalle, als er es zusammen mit der Bordkarte der Dame an der Abfertigung überreichte, die ihm eine gute Reise wünschte, nachdem sie es zurückgegeben hatte. Wo nur hatte er das Dokument verloren? Noch am Flughafen oder erst in der Maschine? Was geschah, wenn jemand es fände und natürlich bei den Bullen ablieferte? Er musste seinen Plan auf jeden Fall ändern. Falls man ihn mit dem Überfall auf den Werttransporter in Verbindung brachte, würden die Deutschen ganz sicher auch den Hauptbahnhof und die Bahnreisenden überwachen.
    Jo linste aus dem Fenster des Busses und dann auf seine Armbanduhr. Zwei finster dreinblickende Polizisten in Kampfanzug, kugelsicheren Westen und mit MPs bewaffnet, standen breitbeinig vor dem Ausgang und musterten mit kaltem Blick jeden, der das Gebäude verließ. Frauen passierten, ohne kontrolliert zu werden. Sie hielten zwei Männer auf, die in etwa seiner Personenbeschreibung hätten entsprechen können: Mitte dreißig, groß, kahlköpfig, muskulös. Genervt zeigten diese ihre Ausweise vor und öffneten die Koffer. Ein dritter Polizist schlenderte herum und hatte schon mehrfach einen Blick auf den Bus geworfen, den nach Jo kein anderer Fahrgast mehr bestieg. Eine Ewigkeit verging, bis der Busfahrer endlich den Motor anließ und die Türen des Fahrzeugs sich mit dem Schmatzen der Hydraulik schlossen. Als der Bus endlich anfuhr, sah Jo gerade noch Einstein und den Direktor aus dem Terminal kommen, die unter den Augen der Polizisten von zwei kreischenden Weibern begrüßt wurden.
    Fieberhaft ging Johann Pixner die Möglichkeiten durch: Das Mobiltelefon mit der rumänischen SIM-Card hatte er auf Geheiß Einsteins sofort nach dem Überfall zerstört und in einen Gully geworfen. So gut wie keine der Telefonnummern der Leute, die ihm hätten helfen können, hatte er im Kopf. Auch sein Bruder war noch nicht erreichbar, wenn er sich an Einsteins Befehle hielt. Ohne Ausweis war nicht daran zu denken, ein neues Telefon samt Karte zu kaufen. Und einen Leihwagen würde ihm auch niemand aushändigen. Jo hatte die Taschen voller Bargeld und müsste stehlen, um aus der Klemme zu kommen. Als der Fahrer des Flughafenbusses zum Mikrofon griff und fragte, ob einer der Fahrgäste ein Taxi am Münchner Nordfriedhof benötigte, war Jo der Erste, der sich meldete.

Das Auge
     
    Mein Gott, dieses Auge. Die Iris schillerte in zartdunklen, bernsteinfarbenen Tönungen, das Weiß der Pupille war jungfräulich rein, nur ein kleines Äderchen durchzog es wie die Blutspur eines angeschossenen Hasen den unberührten Schnee. Gundolf war von diesem Anblick bis zur Besinnungslosigkeit ergriffen. Jegliches Zeitgefühl verlor er, wenn er Gertis warmen Atem an seinem Bauch spürte. Seine Hände lagen an ihrem Kiefer, und wenn er schließlich zärtlich ihre Stirn streichelte oder den weichen Hals hinab, stieg ein bis vor kurzem noch ungekanntes Glücksgefühl in ihm auf. Ihr Fell war viel kürzer und trotzdem weicher als das strohfarbene, dicke Haar seiner Mutter, nach dem er nicht mehr greifen durfte, seit man ihn vor zwei Jahren eingeschult hatte. Selbst dann nicht, wenn er sich einsam fühlte. Die Eltern waren sich einig darin, dass er jetzt ein richtiger Mann werden und keine Schwächen mehr zeigen sollte. Auch wenn sie sonst kaum einmal ein Wort wechselten, das nicht mit der Arbeit auf dem abgeschiedenen Hof über Dreikirchen zu tun hatte, von wo der Ausblick weit über das Eisacktal schweifte.
    In dem engen und niedrigen Stall schwebte noch immer der Geruch der frisch gemolkenen Milch, die seine Mutter nebenan zum Filtern in einen Holztrichter goss. Der achtjährige Gundolf, das jüngste der elf Kinder, musste wie jeden Abend den Mist auf einer hölzernen Schubkarre hinausbugsieren und frisches Stroh ausstreuen. Niemand mehr würde den Stall nach dem Melken betreten. Die drei älteren Brüder waren nicht aus dem Krieg zurückgekehrt, die kleineren mussten

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